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Helfen nur Soldaten?

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Militärregimes — einst die schockiert zur Kenntnis genommene Ausnahme von der demokratischen Regel, werden sie heute in weiten Teilen der Welt zur vorherrschenden Regierungsform. In jenem Erdteil, in dem das Militär am längsten seiner eigentlichen Aufgabe, dem Kampf gegen äußere Feinde, entwöhnt ist, nämlich in Südamerika, existiert kaum ein Land mehr, in dem nicht Offiziere regieren oder mitregieren oder wenigstens noch vor kurzem regiert haben. Auch Afrika hat seine Militärregimes, und auch in anderen Teilen der Welt greifen immer öfter Offiziere nach der Macht, weil die Politiker am Ende sind — oder weil die Offiziere der Ansicht sind, die Politiker seien am Ende.

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Militärregimes — einst die schockiert zur Kenntnis genommene Ausnahme von der demokratischen Regel, werden sie heute in weiten Teilen der Welt zur vorherrschenden Regierungsform. In jenem Erdteil, in dem das Militär am längsten seiner eigentlichen Aufgabe, dem Kampf gegen äußere Feinde, entwöhnt ist, nämlich in Südamerika, existiert kaum ein Land mehr, in dem nicht Offiziere regieren oder mitregieren oder wenigstens noch vor kurzem regiert haben. Auch Afrika hat seine Militärregimes, und auch in anderen Teilen der Welt greifen immer öfter Offiziere nach der Macht, weil die Politiker am Ende sind — oder weil die Offiziere der Ansicht sind, die Politiker seien am Ende.

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Dabei hat das Militärregime als Regierungsform in den letzten fünfzehn Jahren eine . erstaunliche Spannweite entwickelt. Es ist längst nicht mehr so, daß Militärregierungen unbesehen als faschistisch oder faschistoid abgestempelt werden können. Die Bandbreite reicht politisch von faschistischen oder faschistoiden Regimes (Paradebeispiel bis vor kurzem: Griechenland) bis zu fortschrittlichen, gemäßigt links orientierten (Paradebeispiel: Peru), und wenn man von der Methodik der Machtergreifung ausgeht, von Situationen, in denen sich eine putschende Armee noch im gewaltsamen Griff nach der Macht als maßvoll und als Hüterin der Demokratie erweist (Paradebeispiel: Türkei 1960), bis zum blutigen Exzeß derer, die nicht vergessen haben, daß ihr erlernter Beruf das Töten ist (Paradebeispiel von gestern: Indonesien, Paradebeispiel von heute: Chile).

Wer heute auf einer Weltkarte alle intakten, unangefochtenen Demokratien mit einer und alle Einparteiregimes (zu denen sämtliche kommunistische Länder zählen), alle Militärregimes und wackligen, gefährdeten Demokratien mit einer anderen Farbe überzieht, erkennt unschwer, daß die parlamentarische Demokratie eines bestimmt nicht ist: die repräsentative Form menschlichen Zusammenlebens in einem Staatswesen im 20. Jahrhundert. Der klassische Marxismus, wie so oft ein geeignetes Instrument der historischen Analyse und ein ungeeignetes für Zwecke der Prognose, hat damit, daß er den Parlamentarismus als Herrschaftsinstrument einer Klasse denunzierte, immerhin insofern recht behalten, als so gut wie sämtliche Staaten, die sich heute intakter, unangefochtener, alle Gruppen der Gesellschaft repräsentierender parlamentarischer Systeme erfreuen, dies einer zurückliegenden Phase kapitalistischer Akkumulation, sprich Ausbeutung, sprich Industrialisierung, verdanken, die sich dort, wo sie unter kommunistischem Vorzeichen nachgeholt wurde, nicht weniger gewaltsam und opferreich abgespielt hat.

Wo das parlamentarische System nicht Werkzeug der Ausbeutung ist, somit keine Gruppe der Gesellschaft im Prozeß der politischen Willensbildung unterdrückt, hat es sich als ein erstklassiges Mittel zur Verwaltung und schrittweisen Verbesserung des Bestehenden erwiesen. Werden aber, aus welchen Gründen auch immer, Entscheidungen notwendig, die im demokratischen Konsensus nicht getroffen werden können, ist das demokratische System überfordert, und dann ist das politische Patt nicht fern, in dem sich die in Parteien formierten Kräfte gegenseitig blok-kieren. Damit steigt die Versuchung, den gordischen. Knoten zu durchhauen.

In einer Welt ohne Militär (oder mit einem politisch konsequent abstinenten Militär) sind die Politiker zur Ausschöpfung aller Möglichkeiten, doch noch zu einer Entscheidung zu gelangen, gezwungen — oder die Entscheidungen werden, auch wenn sie noch so fällig sind, vertagt. Aber in weiten Teilen der Welt liegt die Reizschwelle der Generäle wesentlich tiefer als die letzten, unüber-steigbaren Hürden der Politik. Meist greifen sie ein, wenn die Möglichkeiten der Politik noch lange nicht ausgeschöpft sind. Oder sie greifen ein, wenn die politischen Entscheidungen in eine Richtung weisen, die sie nicht dulden zu können meinen.

In vielen Staaten versteht sich heute die Armee als Wächter über die Politik — und oft keineswegs nur deshalb, weil sie sich im Besitz der massivsten überhaupt vorhandenen Machtmittel weiß, denn Tanks und Bomber setzen jede, auch die unangefochtenste Autorität, außer Kraft. In vielen Ländern muß die Armee dazu dienen, ein überschüssiges Arbeitskräftepotential zu binden, muß sie für Hunderttausende von Menschen die Schule ersetzen, bietet sie Ehrgeizigen die einzige erkennbare Chance, aufzusteigen, „etwas zu werden“, eine Ausbildung zu erlangen.

Da niemals die Mannschaft putscht, sondern stets obere Ränge, etwa von den Obersten aufwärts bis zu den Generälen, ist die Rekrutierung des Offizierskorps von größter Bedeutung für die politischen Neigungen „der Armee“. In Chile etwa wird das Offizierskorps traditionell aus Angehörigen der Ober- und der oberen Mittelschicht gebildet. Daher stand „die Armee“, abgesehen von einigen wenigen Allende-Freunden in gehobenen Positionen, dem angeblich marxistischen, in der Praxis auf penibelste Weise verfassungstreuen Präsidenten stets fremd gegenüber, und Allende stand ihr fremd gegenüber — er hat in den Jahren seiner Amtszeit kaum einen Versuch unternommen, Einfluß auf das Offizierskorps (oder auf die Mannschaften) zu gewinnen. Er ging in die Arbeiterviertel, aber er ging nicht in die Kasernen — dieses Versäumnis hat sich blutig gerächt.

Auf der anderen Seite die türkische Armee: Sie ist traditionell volksverbunden, und fast alle Offiziere, die sich 1960 gegen Menderes erhoben, um die Republik vor dem Abgleiten in eine islam-konservative Diktatur zu bewahren, stammten aus bescheidenen Verhältnissen und hatten tatsächlich, wie man so schön und meist falsch sagt, als kleine Unteroffiziere den Marschallstab im Tornister. Von General Gürsel, mehr Aushängeschild als Kopf der Verschwörung, der als Sohn eines Offiziers in Provinzgarnisonen aufgewachsen ist, abwärts hatten sie Lebensläufe, die einander auffallend glichen.

Sowohl die türkischen als auch die argentinischen Offiziere hatten nach ihrer Machtübernahme den Ehrgeiz, zu beweisen, daß sie die besseren Politiker waren und sich auch in der politischen Arena (unter mehr oder weniger echtem Verzicht auf das sichere Netz aus Bajonetten) zu bewähren vermochten. Sie haben in beiden Fällen bittere Erfahrungen gemacht und daraus nicht militärische, sondern politische Lehren gezogen, indem sie Berufspolitiker, die keineswegs aus ihren Reihen kamen, wieder an die Macht ließen (in Argentinien: Peron). Aber dieses Verhalten hat Seltenheitswert.

In einigen Fällen haben sich putschende Generäle nachher tatsächlich auch politisch behauptet: So in Thailand, so in Indonesien. In Thailand, dessen Name, ins Deutsche übersetzt, „Land der Freien“ lauten müßte — und das tatsächlich niemals unter Fremdherrschaft geriet — ist zwar eine Militärregierung an der Macht, doch konnte sie nur wenig an den Zuständen, die ihr nicht gefielen, ändern. Sie konnte die Partisanen, vor allem in den nördlichen Berggebieten, ebensowenig unter Kontrolle bringen wie die Korruption, anderseits aber hat sie Meinungsund Pressefreiheit (und sie wird von der Presse nach Strich und Faden gezaust) bislang nicht angetastet.

War der Putsch der Thai-Generäle eine eher undramatische Angelegenheit, so kamen die indonesischen Offiziere unter Strömen von Blut an die Macht. Es gibt sehr massive Indizien dafür, daß die „kommunistische Revolution“, die in ein schaurig-düsteres Kommunistenmassaker mündete, entweder von einem Agent provocateur oder von einem Einzelgänger ausging — Tatsache ist, daß der Gegenschlag die umfangreichen kommunistischen Organisationen vollkommen unvorbereitet traf. Innerhalb einiger Monate sind Hunderttausende Menschen gestorben, und Tausende, vielleicht Zehntausende leben unter mörderischen Bedingungen in Konzentrationslagern auf entlegenen Inseln.

Aber die indonesischen Generäle zeigten sich imstande, Probleme zu lösen, an denen Sukarno gescheitert war — unter Suharto zogen Offiziere in die Schlüsselpositionen der Wirtsohaft ein und erwiesen sich als fähige Manager.

Vor allem drei Armeen, der peruanischen, der türkischen und der indonesischen, kann man bescheinigen, daß sie sich an der Macht partiell bewährt haben, die peruanische durch ein soziales Reformwerk, die türkische, indem sie die Macht freiwillig wieder aus der Hand gab, die indonesische, indem sie die Korruption und die Ineffizienz in der Industrie abbaute. (An anderen Problemen ist sie gescheitert: DJakarta wird mehr und mehr eine Horrorstadt und die Überlebenden des Kommunistenmassakers, die längst keine Gefahr mehr sind, werden noch immer wie Tiere gefangengehalten.)

Militärregimes herrschen heute in vielen Ländern. In Brasilien werden unter einem Militärregime erstaunliche wirtschaftliche Wachstumsraten erzielt, während es den Volksmassen von Jahr zu Jahr schlechter geht. Amin in Uganda ist ebenso als Chef einer Militärregierung anzusehen wie Gowon in Nigeria und Mobutu in Zaire. Afghanistan, Birma und Kambodscha haben Militärregimes, von den arabischen Ländern ganz zu schweigen: Boumedienne in Algerien, Ghaddafi in Libyen, Numeiri im Sudan, Asad im Irak, El Bakr in Syrien.

Viele dieser Regimes kamen nicht an die Macht, weil die Demokratie am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt war, sondern deshalb, weil in der Armee der Wille zur Macht die Mittel zur Erringung der Macht vorfand.

Dabei darf die Unterstützung von außen in dieser oder jener Form keinesfalls übersehen werden. Wie zu erwarten, erwies sich die CIA bei der Akquisition sympathisierender Militärjuntas als wesentlich erfolgreicher als die Sowjetunion, der die linksorientierteh Militärs an der Spitze arabischer Staaten mehr und mehr Kopfzerbrechen bereiten. Ohne den amerikanischen Geheimdienst wäre die griechische Offlziersjunta ebensowenig an die Macht gekommen wie Lon Nol in Kambodscha, eventuelle Enthüllungen über diskrete Mitwirkung an Allendes Ende sollten niemanden in Erstaunen versetzen. In Südamerika leisten die USA ein gerüttelt Maß an Entwicklungshilfe zur Heranbildung einwandfrei antikommunistischer Offizierskorps. Chiles neuer Machthaber hat jahrelang in Washington als Militärattache gewirkt und zahlreiche seiner Mitverschwörer absolvierten längere Ausbildungsaufent-halte in den USA — genauso wie Offiziere vieler anderer südamerikanischer Armeen.

Äußerste Skepsis gegenüber Militärregimes, vor allem neugebildeten, ist nicht nur deshalb am Platz. Denn allein das Vorbild anderer Armeeputschisten verleitet immer öfter Generäle, gar nicht abzuwarten, wie sich die Demokratie in ihrem Land entwickelt, ihr keine Chance zu geben. Um so bedenklicher, wenn auch außerhalb der Armeen immer öfter mit der starken Hand geliebäugelt wird.

Ein alarmierendes Beispiel dafür lieferte Indira Gandhi, die nach Allendes Tod den indischen Zeitungen vorwarf, bei dieser Gelegenheit nicht auch gleich vor Kräften, die Indiens Demokratie ein chilenisches Schicksal bereiten könnten, gewarnt zu haben. In Indien wird in letzter Zeit immer öfter, und mittlerweile verdächtig oft, die Frage gestellt, wie lange das Land sich seine Demokratie noch werde leisten können — dies, obwohl nichts dafür spricht, daß irgendeine der Kräfte, die in Indien unter Ausschaltung der Demokratie zur Machtausübung gelangen könnten, Indiens Probleme besser lösen könnte.

Auf diese Weise unterhöhlt die Demokratie sich selbst — wie sie es schon einmal in diesem Jahrhundert, und damals in Europa, getan hat. In einem gewissen Sinne haben die Militärregimes nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachfolge der diversen Führersysteme angetreten, auf die die Welt vor dem Krieg gebannt starrte. Die Rolle, die damals der charismatische Führer spielte, übernimmt immer öfter der Panzer, der niemanden zu überzeugen braucht.

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