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Helfen und schweigen

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Äthiopien steht wieder vor einer gigantischen Hungerkatastrophe. Trotz rnassiver Hilfslieferungen aus vielen Ländern zeigt sich keine Besserung.

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Äthiopien steht wieder vor einer gigantischen Hungerkatastrophe. Trotz rnassiver Hilfslieferungen aus vielen Ländern zeigt sich keine Besserung.

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,-,Ein Flüchtlingslager ist kein Schmuck... Nichts ist entsetzlicher als Frauen, Kinder und Alte am Rande des Grabes. Als Zusammenballung unschuldiger Opfer ist das Lager das letzte Stadium menschlicher Verzweiflung.“

Als es im Oktober 1984 einem BBC-Reporter gelang, in zwei äthiopischen Flüchtlingslagern, Korem und Makale, zu filmen, wurde die Welt erstmals Zeuge einer bis dahin verschwiegenen Hungerkatastrophe auf dem afrikanischen Kontinent.

Andre Glucksmann, führender Kopf der „Nouveaux philoso-phes“ in Frankreich, bezweifelt die weitverbreitete Ansicht, daß nur die verheerende Trockenheit

Anfang der achtziger Jahre zu dieser Katastrophe geführt habe. In seinem Buch „Politik des Schweigens“ wirft er dem kommunistischen Regime in Addis Abeba vor, durch die mörderische Politik der Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen den Tod von Hunderttausenden verursacht zu haben.

1933 wurde die Ukraine von einer schweren Hungersnot heimgesucht, die mit der Ausrottung der „Kulaken“ begann und fünf Millionen Menschen allein in der Ukraine das Leben kostete. Josef Stalin lud damals den französischen Ministerpräsidenten Eduard Herriot ein, um die in der „bürgerlichen Presse“ des Westens verbreiteten Meldungen über eine angebliche Hungerkatastrophe Lügen zu strafen. Was Herriot sah, war nichts anderes als ein „Potemkinsches Dorf“, die freundlichen Bauern nichts anderes als Angehörige der GPU, der Vorgängerin des KGB.

Dieses Schauspiel wiederholte sich 1979 in Kambodscha. Nach vierjähriger Schreckensherrschaft unter Pol Pot suchten die vietnamesischen „Befreier“ nach einem Sündenbock — und fanden ihn in Pol Pot selber, den man zu einem „asiatischen Hitler“ machte. In Tuol Sleng wurde ein früheres Folterzentrum Pol Pots entdeckt, in dem mehr als 12.000 Menschen auf grausame Weise ums Leben gekommen sein sollen. Unter Anleitung eines ostdeutschen (!) Experten wurde daraufhin ein „Museum“ errichtet, das als Mahnstätte dienen sollte - die Assoziation mit Auschwitz war erreicht.

Nichts anderes geschah in Äthiopien. Die schrecklichen Szenen aus den beiden Flüchtlingslagern Korem und Makale sollten erschüttern und damit Devisen bringen. Das eigene Elend wird nicht mehr als „Potemkinsches Dorf“ getarnt, sondern offen im grellen Licht weltumspannender Medien gezeigt.

Der Augenblick der Wahrheit war kein Zufall. Kurz vor Weihnachten 1985 waren wieder zwei Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Durfte sich Auschwitz in Afrika wiederholen?

Europa und die USA entdeckten hier ihre historische Mission (oder Schuld?) und halfen rasch und großzügig.

Glucksmann wirft aber dem Westen Leichtgläubigkeit vor, denn die Devise: „Wir müssen handeln, und zwar schnell“ blok-kierte seiner Ansicht nach jedes Nachdenken über die eigentlichen Ursachen dieser Hungersnot.

Die zahlreichen humanitären Hilfsorganisationen wie UNICEF, die britische Oxf am, die amerikanischen Hilfswerke World Vision auf protestantischer Seite und der Catholic Relief Service bis hin zu „Menschen für Menschen“ des Österreichers Karlheinz Böhm und schließlich Band Aid, das Hilfswerk des britischen Popstars Bob Geldof, arbeiten seit Jahren in Äthiopien und investieren Milliarden Dollar in ihre spezifischen Hilfsprojekte.

Doch Ende 1986 bekannte ein führender Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes: „Ich weiß nicht: Seit Beginn des Jahres 1985 erhielt Äthiopien aus aller Welt Lebensmittelhilfe in größtem Umfang, um alle Hungernden zu ernähren. Und die Hungersnot nimmt nicht ab, im Gegenteil“. 1986 sind nach offiziellen Meldungen wieder sechs Millionen von 42 Millionen Äthiopiern vom Hungertod bedroht.

Erste Zweifel an der richtigen Verwendung der Hilfsmittel übte die französische Organisation „MSdecins sans frontiers“ im Oktober 1985. Mitarbeiter dieses Hilfswerkes entdeckten, daß zahlreiche Gelder der Europäischen Gemeinschaft von Äthiopien nicht für Getreideankäufe verwendet, sondern für anderweitige Zwecke abgezweigt wurden. Prompt wurde denn auch „Mede-cins sans frontiers“ aus Äthiopien ausgewiesen.

Das Beispiel machte Schule. Seither vermeiden alle anderen Hilfsorganisationen peinlich kritische Äußerungen zur gegenwärtigen Politik des Regimes von Mengistu Haile Mariam.

Inzwischen gehen aber die Umsiedlungstransporte Hiinderttau-sender Bauern und Handwerker in den Süden des Landes weiter. In russische Antonow-Maschi-nen, wo normalerweise achtzehn Personen Platz finden, werden über dreihundert Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen hineingepfercht. Der übrige Teil wird mit Lastwagen eine Woche lang ohne Wasser und Nahrungsmittel verfrachtet. Die Sterblichkeitsrate liegt zwischen 15 und 20 Prozent.

Glucksmann erkannte die erpresserische Absicht des Regimes: Bewohner verlieren durch die Umsiedlung ihre gesamte Existenz und werden dadurch vollkommen vom Wohlwollen der Regierung abhängig. Die zahlreichen Hilfsorganisationen sehen sich aber außerstande, dagegen etwas zu unternehmen. Bei der geringsten Kritik müssen sie mit der Ausweisung rechnen.

Die Frage lautete aber niemals, so Glucksmann: Helfen oder nicht helfen? Sondern: Wie helfen? Der notleidenden Bevölkerung oder denen, die sie unterdrücken?

POLITIK DES SCHWEIGENS. Die. Hintergründe der Hungerkatastrophe in Äthiopien. Von Andre Glucksmann und Thierry Wolton. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1987. 352 Seiten, Ln., öS 296,40.

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