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Helmut Krätzl

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Der Tod des elf Tage alten Simon in Linz, dem die Eltern nach der Lehre der „Zeugen Jehovas" die lebensrettende Bluttransfusion verwehrten, hat viele Fragen ausgelöst. Wie ist die Bibel wirklich auszulegen? Wie sehr kann eine Glaubensgemeinschaft die persönliche Entscheidung eines Mitgliedes binden? Welches Verfügungsrecht haben Eltern über ihre Kinder? Vor allem aber geht es darum: Wem ist der Arzt letztlich verantwortlich?

Der Weltärztebund hat seit 1948 zahlreiche Deklarationen zu Fragen ärztlicher Ethik verabschiedet. Ohne Bezug auf religiöse Motive stellen sie höchste Anforderungen an den Dienst des Arztes. Seine Hauptaufgabe ist, menschliches Leben von seinem Beginn an zu schützen. Der Patient steht im Mittelpunkt aller Überlegungen. Ihm gilt es, mit allen Mitteln zu nützen und nicht zu schaden. Dafür muß der Arzt aber größtmögliche Unabhängigkeit haben.

In der Deklaration von Genf (die in vielen Ländern inzwischen zum Promotionseid geworden ist) heißt es: „Ich werde es nicht zulassen, daß Überlegungen der Religion, Nationalität, Rasse, Parteipolitik oder des sozialen Standards zwischen meine Pflicht und meine Patienten treten." Und in Lissabon erklärte die Weltvereinigung der Ärzte: „Ein Arzt soll immer, auch angesichts faktischer, ethischer oder rechtlicher Schwierigkeiten seinem Gewis-

sen folgen und nur dem Wohl des Patienten dienen."

Im letzten also ist der Arzt seinem Gewissen verpflichtet. Denn selbst die ausgeklügeltste Kasuistik und das feinmaschigste Gesetz kann nicht alle Einzelfälle einfangen. Zwischen den allgemeinen Prinzipien ärztlicher Ethik und den individuellen Einzelfällen aber ist das ärztliche Gewissen die beste, verläßlichste und allein mögliche Vermittlungsinstanz.

Wird so dem Arzt zu viel zugemutet, er in seiner Verantwortung alleingelassen?

Das ärztliche Gewissen wird umso verläßlicher sein, je besser es gebildet ist. Dies setzt höchstes fachliches Wissen und ständige Weiterbildung voraus, aber auch die Kunst der Selbstkritik, um die eigenen Motive klarer zu sehen und so weder der Angst noch der Selbstherrlichkeit zu erliegen. Nötig ist ferner, den Patienten immer umfassender in all seinen Dimensionen zu sehen, um klarer zu erkennen, was „Wohl" in seinem Leben ist.

Die Gesellschaft wird sich immer fragen lassen müssen, wie sehr sie ärztliches Gewissen mitprägt oder belastet. Den kleinen Simon sterben zu lassen hat heftige Vorwürfe ausgelöst. Hilfe bei der Tötung Ungeborener zu leisten scheint nach der Meinung mancher aber schon zur ärztlichen Pflicht zu gehören.

Der Arzt ist jeweils dem Leben gegenüber verantwortlich, über das weder er noch andere ein Verfügungsrecht haben.

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