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Helsinki radikalisieren!

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Für eine Entspannung von unten, eine größere Sicherheit in Europa, die Durchsetzung der Menschenrechte auch in Osteuropa, für ökonomische, ökologische und kulturelle Zusammenarbeit sowie für eine neue Friedensverfassung Europas auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker tritt in einem Memorandum das „Europäische Netzwerk für den Ost-West-Dialog“ ein.

Das sensationelle Dokument — das der FURCHE jetzt vorliegt -ist in einjähriger Arbeit aufgrund eines Meinungs- und Erfahrungsaustausches westlicher Friedensbewegungen mit unabhängigen, demokratisch-oppositionellen Gruppen Osteuropas entstanden.

Es richtet sich im Vorfeld des dritten KSZE-Folgetreffens in Wien (siehe FURCHE-Extra in

dieser Ausgabe) an die Bürgerinnen und Bürger, an gesellschaftliche Gruppen und an die Regierungen aller KSZE-Staaten. Das Memorandum bringt Denkanstöße, wie man das Helsinki-Abkommen (1975) mit „wirklichem Leben“ erfüllen könnte.

Vor allem geht es um ein Aufbrechen der „Militarisierung der Gesellschaften“, um Uberwindung der Kommunikationsbarrieren zwischen Ost und West, um ein Abgehen von Feindbüdern und ein Sichtbarmachen der bedrohten bürgerlichen Grundrechte in vielen KSZE-Staaten. Um diese Ziele zu erreichen, setzt das „Netzwerk für den Ost-West-Dialog“ auf das Gespräch von unten, auf den Druck von „Bürgerinnen und Bürgern“ sowie von nichtstaatlichen Organisationen.

Im Mittelpunkt des Memorandums — es wurde bisher von mehr als 200 Persönlichkeiten aus dem politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Bereich aus allen Teüen Europas unterzeichnet — steht die Besinnung auf die Einheit Europas. Nicht von den Supermächten sollte man Lösungen erwarten, sondern von Eigeninitiativen, die die bestehenden Ansätze zu einem Pluralismus in den Ost-West-Beziehungen stärken.

„Basiskontakte“ könnten „Strukturen des Kalten Krieges“ auflösen und den Boden für einen „Heißen Frieden“ bereiten.

Energisch spricht sich das Memorandum „gegen den Einsatz von militärischen oder para-mili-tärischen Kräften wie auch gegen Geheimdienstaktivitäteh“ aus, die „soziale Veränderungen in einem Land unterdrücken“.

Um eine Entspannung von unten zu erreichen — betont das „Netzwerk für den Ost-West-Dialog“ - müssen das Gespräch und die Zusammenarbeit zwischen allen jenen unabhängigen Gruppen intensiviert werden, die in Ost und West für Frieden, Menschenrechte und ökologische Ziele aktiv sind. Konkret wird die Schaffung eines von den Regierungen unabhängigen Beobachtergremiums gefordert, „das die Tätigkeit und die Entwicklungen im Rahmen des KSZE-Prozesses fortlaufend analysiert und zugleich praktische Vorschläge unterbreitet“.

Hinsichtlich der europäischen Sicherheit wird an eine „kritische Öffentlichkeit“ appelliert, die ne wirksame Kontrolle über alle Bereiche der Müitär- und Sicherheitspolitik ausüben sollte. Als erste friedenspolitische Schritte fordert das Memorandum den Abzug und die Vernichtung aller atomaren Mittelstreckenraketen in Europa, einen umfassenden Teststopvertrag, die Schaffung atomwaffenfreier Zonen, Kampagnen gegen sämtliche Formen des Müitarismus, Verringerung von Militärdienstzeiten und die Anerkennung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen.

Entschieden wendet sich das Memorandum gegen zweierlei Maß bei der Beurteilung von Grundrechten. Der gesamte Katalog der in der Helsinki-Schlußakte aufgelisteten Menschenrechte sollte in allen KSZE-Staaten verwirklicht werden, was auch das Recht auf Bildung freier Gewerkschaften und auf freie Religionsausübung einschließe.

Neben der Ermöglichung uneingeschränkter Reisen zwischen allen KSZE-Staaten, voller Bewegungsfreiheit im eigenen Land, dem Recht auf Auswanderung und der Aufhebung von Beschränkungen des grenzüberschreitenden Transports von Büchern und Zeitungen schlägt das Memorandum die Einrichtung einer gesamteuropäischen Menschenrechtskommission vor.

Auch für die Wirtschaftssysteme in Ost und West, die „dringend einer umfassenden Demokratisierung bedürfen“, hat das Memorandum Vorschläge parat: Ein KSZE-Entwicklungsfonds sollte Projekte der Strukturverbesserung in Industrie, Landwirtschaft und Verkehr fördern; eine unabhängige Kommission Ausmaß und Wirkungen von Umweltschäden untersuchen.

Abschaffung aller Formen von Zensur, Austausch von Fernseh-und Rundfunkprogrammen sind Forderungen im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit.

Das Memorandum versteht seine Vorschläge als „langfristiges Projekt“, als eine „realistische Alternative zum Status quo in Europa“. Es gelte, „den Helsinki-Prozeß zu radikalisieren“ und zum Bestandteil eines umfassenden demokratischen Programms zu machen.

Das verpflichte, sich „insbesondere jenen Elementen in der Politik der Supermächte zu widersetzen, die dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung zuwiderlaufen“.

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