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Heraus aus dem Ghetto!

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Gibt es eine jüdische Kultur der Ge­genwart oder schwelgt das Judentum nur in Nostalgie? Gibt es heute nur jüdi­sche Künstler oder auch außerhalb Is­raels so etwas wie ein modernes Juden­tum mit charakteristischen künstleri­schen Ausdrucksformen?

Manchmal scheint es, als hätte insbe­sondere das Wiener Judentum nach dem Anschluß Österreichs an Hitler- deutschland und dessen katastrophalen Folgen den Anschluß an seine vielfäl­tige jüdische Vorkriegskultur nicht wie­dergefunden. Diese Unsicherheit in der Diaspora-Identität innerhalb einer im­mer noch als feindlich bzw. skeptisch gesinnten und erlebten Umwelt hat die Ghettomentalität der meisten Wiener Juden verstärkt.

Nun besteht eine Chance, daß das Wiener Judentum selbstbewußter und dialogbereiter den Kontakt mit der nichtjüdischen Öffentlichkeit sucht. In der Seitenstettengasse, wo eher unbe­achtet Wiens Juden bisher nur ihren Tempel und ihre Talmudschule besuch­ten, gibt es seit September des Vorjah­res eine jüdische Volksschule, seit Mit­te Februar 1981 ein öffentlich zugängli­ches koscheres Restaurant und seit kur­zem ein jüdisches Kulturzentrum.

Hier hat Karin Weininger, die nach einem abgeschlossenen Betriebswirt­schaftsstudium mehr als zwei Jahre für Arnulf Rainer gearbeitet hat, sehr kon­krete Vorstellungen, wie sie jüdisches Kulturbewußtsein stärken, aber auch das Interesse der nichtjüdischen Öffent­lichkeit für jüdische Kultur wecken könnte. Dabei möchte sie jüdische Tra­dition in Frage stellen und den Juden das Echte zur bewußten Bewahrung deutlich machen.

Ein Judentum, das seine Identität als österreichisch, als wienerisch und als jüdische zu vertreten versteht, wird auch den Kontakt und die Auseinan­dersetzung mit seiner nichtjüdischen Umwelt nicht mehr scheuen. Das gilt in erster Linie für die Jugend, die vom Trauma der NS-Zeit weniger belastet ist als die Generation ihrer Eltern und Großeltern.

Zugeschnitten auf die deutschspra­chige Umwelt möchte Karin Weininger daher den Schwerpunkt auf das deutschsprachige Judentum sowohl der Vorkriegszeit, wie auch der Gegenwart legen; Israel steht dabei nicht im Vor­dergrund, sondern ist nur ein wichtiger

Bestandteil der modernen jüdischen Kultur.

Das Programm, das das jüdische Kulturzentrum anbieten möchte, soll alle Kulturbereiche umfassen: Litera­tur, Kunst und Musik ebenso wie Philo­sophie und Religion.

Dazu gehören Ausstellungen, Lesun­gen (auch mit Werken noch nicht ver­öffentlichter jüdischer Autoren), eine Filmwoche mit jiddischen Filmen, Mu­sikabende, Kindernachmittage mit jü­dischen Märchen und Pantomime, aber auch Diskussionen über „Literatur und Religion“, „Jüdische Kultur heute“, „Politik und Religion“, das brisante Problem über das Verhältnis von „An­tizionismus und Antisemitismus“ oder über den christlich-jüdischen Dialog.

Auch an einen Talmudkurs für An­fänger denkt Frau Weininger, an dem - entgegen der Tradition - Frauen und Nichtjuden teilnehmen können.

In erster Linie will sich das Veran­staltungsprogramm des jüdischen Kul­turzentrums an die Juden selbst wen­den. Die Stärkung des jüdischen Be­wußtseins steht jedoch gleichzeitig un­ter dem Motto: Heraus aus dem Ghetto!

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