6822055-1973_42_10.jpg
Digital In Arbeit

Heroischer Mahler

19451960198020002020

„Staatliche Moskauer Philharmonie“ ist der Titel jenes Orchesters, das in der UdSSR vor allem die Auslandskontakte und neuere Musik pflegt. Man hat nicht nur ein umfangreiches russisches Repertoire für den Konzertsaal bereit und auf Platten aufgenommen (unter anderem fast alle Orchesterwerke und Konzerte Schostakowitschs), sondern spielt auch Strawinsky, Honegger, Bartök, Gershwin und viele andere ausländische Komponisten. Und man spielt nicht nur zu Hause, sondern auch auf Gastspielreisen, oft auch unter ausländischen Dirigenten. So ist auch der etwa 50jährige Kyrill Kondraschin, in Moskau ausgebildet und zunächst als Theaterkapellmeister bei Stanislawski und im Bol-schoitheater tätig, seit zwölf Jahren bei der Staatlichen Philharmonie, ein vielgereister Mann. Auch ein versierter und begeisterungsfähiger.

19451960198020002020

„Staatliche Moskauer Philharmonie“ ist der Titel jenes Orchesters, das in der UdSSR vor allem die Auslandskontakte und neuere Musik pflegt. Man hat nicht nur ein umfangreiches russisches Repertoire für den Konzertsaal bereit und auf Platten aufgenommen (unter anderem fast alle Orchesterwerke und Konzerte Schostakowitschs), sondern spielt auch Strawinsky, Honegger, Bartök, Gershwin und viele andere ausländische Komponisten. Und man spielt nicht nur zu Hause, sondern auch auf Gastspielreisen, oft auch unter ausländischen Dirigenten. So ist auch der etwa 50jährige Kyrill Kondraschin, in Moskau ausgebildet und zunächst als Theaterkapellmeister bei Stanislawski und im Bol-schoitheater tätig, seit zwölf Jahren bei der Staatlichen Philharmonie, ein vielgereister Mann. Auch ein versierter und begeisterungsfähiger.

Werbung
Werbung
Werbung

Seine letzte Entdeckung scheint Mahler zu sein. Noch vor wenigen Jahren sagte mir Schostakowitsch in kleinem Kreis und in Anwesenheit der Tochter des Komponisten, Anna, daß er persönlich Mahler sehr, ja überaus schätze und mit seinen Schülern oft Mahler-Musik von Schallplatten und Tonbändern höre; aber in russischen Konzertsälen erklinge er selten — es sollte wohl richtiger heißen: eigentlich gar nicht. Er sei eben doch ein „metaphysischer Komponist“. Wie wahr! — Aber Mahler hat viele Schichten, Aspekte und Facetten — was uns die Moskauer an zwei Abenden an Hand der letzten vollendeten Mahler-Symphonie, der Neunten, die posthum 1912 in Wien uraufgeführt wurde, vorführten. —

Es ist ein in jeder Hinsicht, auch was die Dauer von 75 Minuten betrifft, extremes Werk: Zwei langsame Sätze flankieren zwei Scherzi: einen läppischen Ländler und eine „trotzige“ Burleske.

Kondraschin, ohne Taktstock, aus einer Handpartitur dirigierend, begann den Andantesatz vorsichtig, zögernd, ließ Note für Note mit akri-bischer Genauigkeit spielen, als sei's ein Stück von Webern, wurde dann immer ausdrucksvoller und erreichte bereits im ersten Teil bedeutende Höhepunkte. Die beiden weniger gewichtigen Mittelsätze boten den Gästen keinerlei Schwierigkeiten, das kennen sie ja alles von ihrem Schostakowitsch: die grelle Instrumentierung, die zuweilen karikaturistische Geste, das Drauf-

gängerische des trotzigen Allegros. Aber dann kam das große Adagio, einer der erhabensten und ausdrucksvollsten Sätze, die Mahler geschrieben hat. Und hier lernte man die Moskauer richtig kennen.

Sie haben im Chor und im lyrischen Forte einen unbeschreiblich schönen, herben, männlichen und substantiellen Streicherklang. Man hat während der letzten Jahre Ähnliches kaum gehört. Und ihr Mahler-Verständnis? Die Moskauer kehren mehr den heroischen als den sentimental-weltschmerzlichen Mahler hervor, mehr den dynamischen als den nervösen. Man muß da nur die beiden triumphalen Beckenspieler gesehen haben ... Doch wer dürfte die Russen da in ihrer Auffassung belehren? In Mahlers Brust wohnten viele Seelen, und sicher auch eine russische, wir wissen es aus zahlreichen Äußerungen (die sich übrigens auch auf die russische Musik, speziell auf Tschai-kowsky, bezogen). Und schließlich ist der einzige legitime — wenn auch sehr eigenwillige Mahler-Nachfolger ein Russe: Dimitri Schostakowitsch nämlich, dessen Melodien oft Mahlerschen Duktus aufweisen, von der Instrumentation der Scherzi ganz zu schweigen. (Den Anfang des Mahlerschen Burleske-Satzes könnte

man glatt in eine Partitur von Schostakowitsch hineinmontieren usw.)

Das Publikum würdigte den heroischen Einsatz der Gäste für ein so schwieriges Werk ebenso wie das echte Verständnis, das sie bei dessen Interpretation zeigten. (Eine wahrhaft rührende Geste: Als Kondraschin den nicht enden wollenden Applaus auf die in die Höhe gehaltene Partitur abzulenken versuchte.)

Der Mahlersymphonie war Tschaikowskys 1. Klavierkonzert in b-Moll vorangestellt, über welches Herbert Eimert einmal schrieb, daß seine beispiellose Durchschlagskraft bisweilen ins Populäre abzugleiten drohe. Nun, das ist sehr fein gesagt, denn sie droht nicht nur, sie tut es.

Grigorij Sokolow, den Interpreten des Soloparts, wollen wir nach diesem ersten Auftritt nicht beurteilen. Der untersetzte Zweiundzwanzigj ährige ist das, was man einen musikalischen Kraftlackel nennt. Er wurde in Moskau geboren und dort seit seinem siebenten Lebensjahr ausgebildet. Sokolow hat in der halben Welt konzertiert, muß daher wohl ein guter Pianist sein. Hier lernten wir ihn nur als virtuosen Schwerarbeiter kennen, der den resistenten Steinway oft in ernste Gefahr brachte. Aber die Drahtsaiten hielten bis zum triumphalen Schluß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung