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Herr, wer ist mein Nächster?

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In Ried im Innkreis wurde kürzlich ein Rauschgiftring aufgedeckt. Konsumenten und Händler waren Schüler. 29 Burschen und Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Man nimmt an, daß der Kreis der Käufer noch größer gewesen ist.

Haben die Eltern nicht bemerkt, daß ihre Kinder Rauschgift nehmen? Und die Lehrer, die ihre Schüler durch Jahre hindurch kennen? Ist ihnen allen nicht aufgefallen, daß mit den jungen Menschen etwas nicht stimmt, daß sie in einer Krise stecken? Daß sie vielleicht zuerst aus reiner Neugier zum Rauschgift griffen, später aber aus dem angenehmen Gefühl, einer Welt wenigstens für Stunden zu entfliehen, mit der sie nicht zurandekommen?

Wer hat den Jugendlichen das Rauschgift verkauft? In Wien werden im Herbst vier junge Burschen vor Gericht stehen, Sechzehn- und Siebzehnjährige. Sie haben wehrlose Menschen gequält und gefoltert, harmlose Passanten niedergeschlagen, zerstört und gestohlen. Warum? Aus Langeweile, sagen sie. Sie hatten in der Schule versagt, keinen Sinn im Leben gesehen, zum Alkohol gegriffen. Alles weitere ergab sich von selbst. Der Psychiater meint, die Burschen seien „anlagebedingt gefühlskalt und gemütsarm”. Als ob das einem Menschen in die Wiege gelegt würde.

Aber die vier stammen, wie es so schön heißt, aus „intakten Familien”. Was kann an einer Familie intakt sein, wo die Eltern nicht merken, daß ihre heranwachsenden Kinder in der Ausbildung versagen, trinken und „gefühlskalt” sind?

Die Eltern der vier Burschen sind fassungslos, haben keine Erklärung. Haben sie wirklich keine? Einer der Burschen wollte sich in der Zelle erhängen. Ein Zeichen von Gefühlskalte? Eher ein Zeichen von Einsamkeit und Verzweiflung.

Ein 16jähriger ermordete seine Mutter und beging Selbstmord. Er war das uneheliche Kind der Frau, die zumeist als Bedienerin arbeitete, trank und einige Zeit in psychiatrischer Behandlung stand, weil sie unter Depressionen litt. Der kaufmännische Lehrling führte Buch über seine Schießübungen, sammelte Zeitungsartikel über Gewaltverbrechen und Terrorakte, aber auch Dynamit und Waffen. Daß es im Einfamilienhaus triste Familienverhältnisse gab, war allgemein bekannt, über Schwierigkeiten zwischen Mutter und Sohn wissen die Nachbarn nichts.

Ebenfalls in Tirol hat eine Mutter durch viele Monate hindurch ihre vier Kinder im Alter zwischen einem und neun Jahren so vernachlässigt, daß die Älteren ihren Hunger aus den Abfallkübeln der Nachbarn stillten und dem Baby im Gitterbett Zucker gaben, um es zu beruhigen. In der Schule fiel auf, daß die beiden Ältesten immer zu spät zur Schule kamen, keine Jause mithatten und so sehr stanken, daß sie von ihren Mitschülern ausgelacht wurden. Aber niemand kam auf die Idee, den Ursachen nachzugehen.

Einzelfalle? Leider nein. Andere nach ihren Sorgen zu fragen, gilt als zudringlich. Sich um anderer Leute Kinder zu kümmern, als Einmischung in fremde Angelegenheiten. Mag sein. Besser aber, das Risiko der „Zudringlichkeit” und der „Einmischung” auf sich zu nehmen, als wegzusehen.

Es wäre bequem, die Schuld den jeweiligen Vätern, Müttern oder Lehrern zuzuschieben. Zu bequem. Was tut die Gesellschaft, was tun wir alle dazu, um Jugendlichen eine Orientierung zu geben, um jungen Leuten bei ihrer Aufgabe, Kinder großzuziehen, zu helfen?

Alle rennen wir hinter irgend etwas her. Der Karriere, dem Sozialprestige, dem Auto, dem Urlaub im Ausland. Uber all dem vergessen wir, daß alle diese E rrungenschaften einst den Sinn hatten, das Leben zu erleichtern, Zeit zur Entspannung, zum Nachdenken, zur Besinnung zu geben.

Wer darf jungen Menschen einen Vorwurf machen, wenn sie die Orientierung verlieren. Leben wir ihnen etwa ein sinnvolles Leben vor?

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