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Herzschlagfinale

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„Liebe Skisportfreunde, jetzt heißt es wieder Daumen drücken für unseren Erwin Fesch, der soeben die Startmaschine betritt. Uber den Kopfhörer in seinem Helm hört er in diesem Augenblick die letzten Computerdaten aus dem Großrechenzentrum der vereinigten physikalischen Institute der österreichischen Universitäten. Er unterbricht das autogene Mentaltraining und vergleicht die aktuellen Daten mit den Prognosewerten, die er vor 15 Minuten erhalten hat.

Und jetzt ist es soweit — er stößt sich ab, die Skienden gehen fast im idealen Winkel von 43,7 Grad hoch, ein paar Schlittschuhschritte und schon ist er im oberen Gleitstück. Hier wird das Rennen bereits entschieden. Nur wer hier den cw-Wert von 0,27 erreicht, hat eine Chance. Das Material spielt natürlich wieder eine entscheidende Rolle. Hoffentlich hat er das richtige Schuhwachs erwischt, und hoffentlich hat er noch die Handschuhe gewechselt, denn die Luftfeuchtigkeit ist innerhalb der letzten Stunde von 43 auf 41 Prozent gesunken!

Er ist ja ein richtiger Pechvogel, unser Erwin. Wir alle erinnern uns noch an sein Unglück vor vier Jahren in Obergamsenhausen, als er zwischen Tor 25 und 26 sein Taschentuch verlor, oder gar an das Hendlkammrennen des Vorjahrs, als vor dem Start die zweite Schnalle seines linken Schuhs klemmte und ihn aus der Konzentration brachte.

Er hat jetzt das obere Gleitstück hinter sich und kommt bereits in den gegenüber früher etwas veränderten Mittelteil. Sie wissen ja, daß sich hier die Wildkarspitze befand, die auf Anordnung der FIS weggesprengt und abgetragen werden mußte, damit die Piste der INA, der Internationalen Norm für Abfahrtsstrecken, angepaßt werden konnte.

Er kommt jetzt bereits zur oberen Zwischenzeit — ja! Zwei Tausendstel schneller als die bisherige Bestzeit!! Jetzt folgt die sogenannte „Waschrumpel", jene fünf im Abstand von je zwanzig Metern aufeinanderfolgenden künstlichen Schläge, die das Weltcup-Komitee vorgeschrieben hat. Sie erinnern sich ja noch an den dramatischen Zwischenfall beim Damenrennen am 9. Februar 1972 in Jemenfous, als unserer Gitti Ha-fersaokl bei der Einfahrt in den Zielhang mit bester Zwischenzeit bei solchen Schlägen in einem Rechtsschwung ein Träger ihres BH's verrutschte, sie irritiert wurde, kurz den Bergski belastete und fast das nächste Tor verfehlte.

Ihr Schwager, der damals als Streckenposten zufällig an jener Stelle stand — heute ist er übrigens, wie Sie ja wissen, als Konditionstrainer für den Skiverband von Abu Dabi tätig —, konnte damals durch den Zuruf „Bischt deppert?!" gerade noch das Argste verhindern. Dieser Ausruf ist ja nachgerade zum geflügelten Wort geworden.

Inzwischen hat der Erwin bereits die mittlere Zwischenzeit passiert und — ein Tausendstel verloren! Hoffentlich wird ihm das in der Endabrechnung nicht fehlen! 97,73 km/h war seine Geschwindigkeit bei Tor 21 - Sie erinnern sich: die gleiche Geschwindigkeit hatte an dieser Stelle vor zwei Jahren der Franz, aber dann sprang er bei der nächsten Welle 18einhalb Meter und wurde bis zum Aufsprung auf 96,18 km/h heruntergebremst, was schließlich — die Videoanalyse konnte das exakt beweisen — dafür verantwortlich war, daß er im Ziel 37 cm hinter dem damaligen Sieger Steve Pokorny lag.. S

Aufpassen, Erwin! Jetzt kommt jene ominöse Stelle — Sie erinnern sich noch —, an der vor elf Jahren Bernhard Rußig seine Brille'putzen mußte. Es war das übrigens bei der zweiten Abfahrt, die das Ersatzrennen für Tomahawk-Valley war, wo ja damals Schneemangel herrschte und wo deshalb bekanntlich nur der Damen-Slalom gefahren werden konnte. Damals hat Eulalia Pröll bei ihrem Weltcup-Debut als beste Österreicherin den 14. Platz ex aequo mit Cecile Famose belegt, die trotz eines Schnupfens ins Rennen gegangen war und aufgrund dieser schlechten Placierung ihre aktive Laufbahn beendete. Sie lebt übrigens heute, wie Sie wissen, in Lausanne und besitzt eine gutgehende Skihaubenfabrik.

Erwin Fesch fährt inzwischen schon in den vom Läufer aus gesehen 23 Grad nach rechts hängenden Zielschuß ein. In diesem Abschnitt hatten die Österreicher im Vorjahr zwischen 0,017 und 0,025 Sekunden auf die Bestzeit, die damals, wie Sie wissen, der krasse Außenseiter Silvano Rehli innehatte, verloren, und deshalb wurde der Streckenteil in den Labors des österreichischen Skipools zu /Trainingszwecken nachgebaut.

Noch 50 Meter bis zum Ziel -1:42 —1:43—1:44 — nein! Keine Bestzeit! 1:45,627. Ein Tausendstel zurück. Was wir schon befürchtet haben, ist eingetreten: Er hat die Zeit im mittleren Gleitstück verloren! Ich gebe aber sofort zum Interview."

„Meine Damen und Herren, ein noch dampfender Erwin Fesch steht vor mir. Erwin, das war wirklich ein Herzschlagfinale, und Sie sind sicher genauso enttäuscht wie wir alle, die Reporter und die Millionen zu Hause an den Apparaten —"

„Na, eigentli ned —"

„Wie haben Sie das Rennen gesehen? War es eher eine Gleitstrecke oder eine Technikerstrek-ke? War das Material ausschlaggebend oder die psychologische Vorbereitung? War die Lackierung des Helms schuld? Hier wird ja von einem neuen Geheimmaterial der Schweizer gemunkelt. Warum hat Urs Reiber gewonnen??"

„Ja mei, er werd halt a wengerl schneller g'fahrn sei wia i!"

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