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Hier lehrt Rom am Leben vorbei

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Bischof Paul Rusch über die bedrückende Kluft zwischen Theorie und Praxis in der Sexualmoral.

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Bischof Paul Rusch über die bedrückende Kluft zwischen Theorie und Praxis in der Sexualmoral.

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Mit einigen Sätzen zur Sexualmoral („Kathpress“, 3. 9.) erregte Innsbrucks Altbischof jüngst großes Aufsehen. Exklusiv für die FURCHE begründet er hier seine Meinung.

Die Frage der Unerlaubtheit des Gebrauchs künstlicher Geburtenregelung geht auf Pius XI. zurück. Er erließ die Enzyklika „Casti connubii“, in der ein solcher Gebrauch verboten wurde. Dieses Verbot wurde von Paul VI. in der Enzyklika „Humanae vitae“ erneuert. Auch der gegenwärtige Papst hat es nochmals bestätigt. So ist es jetzt die amtliche Lehre der Kirche.

Nun blicken wir auf das gelebte Leben. Die offizielle Lehre und die Lehre des Großteils der Moraltheologen klaffen auseinander, ebenso auch die Praxis der Gläubigen.

Für die Moraltheologen sei als Beispiel genannt: Alfons Auer, Moralprofessor in Tübingen. Er schreibt in der „Herder Korrespondenz“: „Die Erklärung der Glaubenskongregation zu einigen Fragen der Sexualität (1975) steht in ihrem Argumentationsstil und in einigen sachlichen Aussagen so isoliert in der ganzen wissenschaftlichen Diskussion, daß wir Moraltheologen nur sagen: Dazu haben wir keinen Zugang mehr, das ist für uns nicht mehr diskutabel. Inzwischen hat sich die Lage für uns nochmals dadurch verhärtet, daß das Lehramt versucht, seine Position mit aller Entschiedenheit neu einzuschärfen“ (Herder Korrespondenz, April 1985, S. 166).

Was die Praxis der Gläubigen betrifft, so gibt es genaue wissenschaftliche Untersuchungen. Danach sinkt die Zahl jener Katholiken, die sich an dieses Verbot halten, bei Jungverheirateten Männern bis auf fünf Prozent herunter.

Das ist ein bedrückender Zustand. Umsomehr bedrückend, als dieses Problem unmittelbar in den Intimraum ehelichen Lebens eingreift. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Änderung möglich sei. Allgemein gefragt: Kann eine kirchliche Lehre geändert werden? Diese Frage wird man nicht einfach mit Ja beantworten können. Gleichwohl muß man, in die Geschichte blickend, feststellen, daß es einige Male geschehen ist.

Es sei die Angelegenheit des Zinsverbotes genannt. Von der Frühzeit des Christentums an wird das Verbot des Zinsnehmens häufig, zum Beispiel von Clemens Alexandrinus, genannt. Im ganzen Mittelalter war es die herrschende Lehre. Das ist begreiflich. Es bestand nämlich Naturalwirtschaft. Es ging nicht um Geld, sondern um Sachgüter.

Sobald die neue Geldwirtschaft begann, wird das nun anders. Vom 16. Jahrhundert an machten die Morallehrer darauf aufmerksam, daß das Sachgut „Geld“ die Verhältnisse geändert habe. Wenn man Geld ausleiht, kann daraus durchaus ein Schaden entstehen. Hätte man es nämlich selbst verwendet, etwa im Handel usw., so hätte sich ein Nutzen daraus ziehen lassen. Benedikt XIV., 18. Jahrhundert, steht zwar noch zum Zinsverbot, anerkennt aber doch einen äußeren Rechtfertigungsgrund für die Zinsnahme. Dieser Rechtfertigungsgrund besteht darin, daß durch Ausleihen ein Schaden entsteht. In der weiteren Folge wurde schließlich das Zinsnehmen allgemein erlaubt. Diese Erlaubnis steht sogar im Kirchenrecht, Codex Iuris Canonici, Kanon 15/43. Es hat sich also die offizielle Lehre geändert, weil die frühere innere Begründung hinfällig wurde.

Neue Situation

Es sei noch ein Fall erwähnt, dessen Abschluß erst in unserer Zeit erfolgte. Pius IX. hat den sogenannten Syllabus erlassen. Darin verneint er die Gewissensfreiheit und die religiöse Freiheit. Das war in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als der herrschende Rationalismus gegen Religion und Christentum stand. Das II. Vatikanische Konzil lehrt aber ausdrücklich die Gewissensfreiheit und die religiöse Freiheit. Dies so sehr, daß Kardinal Ratzinger sich veranlaßt sah, zu sagen, der Text stelle „eine Art Gegen-Syllabus“ dar (Joseph Kardinal Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre, München 1982, S. 398). Die geistige Situation war völlig anders. Die Begründung kam tiefer aus der Offenbarung.

Ergebnis: Änderungen sind vorgekommen, weil aus der geänderten Zeit die frühere Begründung nicht mehr stichhaltig war.

Zurück zu Pius XI.: Das Verbot war zu seiner Zeit wohl berechtigt. Bei Uberhandgreifen der Geburtenbeschränkung bestand damals die echte Gefahr einer Dezimierung der Weltbevölkerung.

Heute besteht kraft der ärztlichen Errungenschaften die gegenteilige Gefahr der Übervölkerung der Erde, und zwar bis zur Verunmöglichung der Ernährung der Menschheit. Das ist die erste Änderung.

Es ging noch eine zweite vor sich: Die alte Hofgemeinschaft der bäuerlichen und einfachen Handwerkswirtschaft ging zu Grunde. Damals arbeitete die ganze Familie: Mann, Frau und Kinder zusammen. Auch Kinder stellten einen Wirtschaftswert dar. Bei der heutigen Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte (besonders Kleinwohnungen!) ist genau das Gegenteil der Fall. Was tut eine Familie, wenn die Eltern etwa mit 35 Jahren schon drei bis vier Kinder haben? Weder Wohnung noch Einkommen reichen für mehr aus.

Man kann nun sagen: Gebraucht die natürliche Empfängnisregelung. Das ist zweifellos die bessere Lösung. Sie läßt sich aber in sehr vielen Fällen nicht anwenden. Man denke nur an den unregelmäßigen Monatszyklus der Frau, ebenso an das Wochenpendeln des Mannes. Die Situation ist also zweifach anders geworden: weltweit und familiär.

Das hat die österreichische Bischofskonferenz 1968 veranlaßt, zu erklären, die Möglichkeit bleibe weiterhin aufrecht, sich bei entsprechender Kenntnis und Situation aus Gewissensgründen anders zu verhalten. Ähnliches hat auch die Deutsche Bischofskonferenz erklärt. Nun nochmals und etwas genauer die dringliche Frage: Kann eine kirchliche Entscheidung geändert werden?

Was die Offenbarung betrifft, ist zu antworten: Nein, das ist unmöglich. Es steht bei Markus 103: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ Als Begründung denke man z. B. nur an das unermeßliche Kinderleid, das durch die Scheidung der Ehe weltweit auf Erden entsteht. (Nebenbei bemerkt, ist es also ganz eindeutig, diese Darlegung will nicht etwa geschlechtlichen Libertinismus fördern; sie will vielmehr die Zeichen der Zeit erkennen.)

Was aber nicht auf göttlicher Offenbarung beruht, kann geändert werden, wie sich aus diesen geschichtlichen Beispielen zeigt (die natürlich wesentlich erweitert werden könnten).

Ein Ergebnis hält der neue deutsche Erwachsenenkatechismus ohne weitere Begründung fest: „Die eheliche Liebe muß offen sein für das neue Leben“ (S. 393). Das ist etwas ganz anderes als: „Jeder eheliche Akt muß offen sein für das neue Leben.“

Abschließend ist es die Aufgabe der Moraltheologen, diese Dinge reif zu machen. Hiebei mögen sie an den Gnadenstreit des 17. Jahrhunderts denken. Damals wurde unter anderem auch Franz von Sales angefragt, was geschehen soll. Er antwortete: Solange viele bedeutende Lehrer in der Kirche verschiedene Meinungen haben, soll die Sache nicht entschieden werden. Papst Paul V. hielt sich daran. Es erfolgte keine Entscheidung. Dieses geschichtliche Beispiel ist bedeutungsvoll.

Bei der Überprüfung werden die Moraltheologen darauf stoßen, daß ein frei geschaffenes Wesen, also auch der Mensch, Selbstverfügungsrecht hat. Wer also im Einzelfall dieses Recht bestreitet, hat die Beweislast dafür zu tragen. Es gilt: „Du sollst nicht töten“ Hier ist die Selbstverfügung durch Gottes Wort begrenzt. Aber es gilt auch: Nach kirchlicher Moral kann eine besonders schwere Operation abgelehnt werden, auch wenn dadurch die Entscheidung für den Tod getroffen wird.

Durch eine, in unserer Angelegenheit des Gewissens, lösende Antwort könnten die Moraltheologen ungezählten Gläubigen die Grundlage innerer Befreiung geben. Damit wäre der heutige bedrückende Zustand beseitigt. Kirchliche Lehre und christliches Leben könnten wieder eine Einheit bilden.

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