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Hilfe, mir wird geholfen!

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In der Schweiz ereignet sich alles mit einem bestimmten Verzögerungseffekt. Das heißt aber keineswegs, daß die Wirkungen deshalb geringer wären. Im Gegenteil, denn auf dem engen Raum stoßen sich die Kräfte, wenn sie einmal geweckt sind, um so mehr. Besonders deutlich wird dies bei der nun mit einer ungeheuren Vehemenz ausgebrochenen Pressekrise, deren Ende noch keineswegs abzusehen ist.

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In der Schweiz ereignet sich alles mit einem bestimmten Verzögerungseffekt. Das heißt aber keineswegs, daß die Wirkungen deshalb geringer wären. Im Gegenteil, denn auf dem engen Raum stoßen sich die Kräfte, wenn sie einmal geweckt sind, um so mehr. Besonders deutlich wird dies bei der nun mit einer ungeheuren Vehemenz ausgebrochenen Pressekrise, deren Ende noch keineswegs abzusehen ist.

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Der eher schwerfällige Apparat von Kommissionen, Parlament und Regierung ist seit langem in Gang gesetzt worden, ohne bisher mehr als gutgemeinte Ratschläge auszuspuk-ken. Die Ereignisse eilen den Beschlüssen stets davon. Als zum Beispiel die Pressepolitische Gruppe der Bundesversammlung eine Motion einreichte, mit der sie den Bundesrat zu Sofortmaßnahmen direkter und indirekter Art zur Erhaltung der Vielfalt der politischen Presse aufforderte, wies sie in der Begründung darauf hin, daß sich die Lage der politischen Presse in letzter Zeit weiter verschlechtert habe und daß das Zeitungssterben „binnen kurzem auch vor der gesamten Presse einer großen Landespartei nicht haltmache, sofern nichts Substantielles geschieht“. Diskret verschwieg man, welche „große Landespartei“ gemeint war, aber die Spatzen pfiffen es von den Dächern, daß von der sozialdemokratischen Presse gesprochen wurde. Inzwischen hat der sozialdemokratische Pressering, dem mit einer Ausnahme alle sozialdemokratischen Tageszeitungen der deutschsprachigen Schweiz angeschlossen sind, die weiße Fahne gehißt, Ende dieses Jahres wird er sein Erscheinen einstellen, „sofern bis dahin nichts Substantielles geschieht“, und dieses „Substantielle“ ließe sich ganz einfach in Zahlen ausdrücken: eine Sofortinjektion von 300.000 Franken und ein Bundesbeitrag von einer Million!

Vielleicht geschieht nun bald wirklich „etwas Substantielles“, handelt es sich doch eben um eine „große Landespartei“. Die beiden ihr angehörenden Schriftsteller Max Frisch und Adolf Muschg sind bereits auf die Barrikaden gestiegen, allerdings zunächst mit einem Appell an die Sozialdemokratie selbst. „Wie soll denn die Partei ihren politischen Kampf fortsetzen ohne eigene Presse, ohne eine permanente Aufklärung, die ihre Zielsetzung erst begreiflich macht? Wenn die SP vor den roten Zahlen kapituliert, dann hat sie sich selber aufgegeben. Was dann?“ fragt Max Frisch, und Adolf Muschg lamentiert: „Geht die ,AZ' ein, so werde ich endgültig an den Todestrieb dieser Partei glauben, denn anders ist das Verhungernlassen der paar SP-nahen Organe inmitten einer bürgerlich möblierten Informationslandschaft nicht mehr zu erklären.“

Die verlangte Bundeshilfe soll aber — falls sie überhaupt je kommt — nicht nur gefährdete Großzeitungen stützen, und diese Hilfe soll auch nicht ausschließlich

Parteiblättern gewährt werden. „Eine allfällige Direkthilfe müßte auch Organen der neutralen Presse oder der Regional- und Lokalpresse zugute kommen, sofern sie auf ihrem Gebiet eine unersetzliche Aufgabe erfüllen und alle Selbsthilfemaßnah-rnen ausgeschöpft sind“, heißt es in der Motionsbegründung ausdrücklich. Das aber ist Zukunftsmusik, und allein im Kanton Aargau haben vier Regionalzeitungen beschlossen, ihr Erscheinen einzustellen.

Fusionen im Zeichen des Kopfblatt-Systems haben zur Folge, daß zwei bestehende Tageszeitungen im Aargau nun so etwas wie eine Monopolstellung aufbauen. Man mag das bedauern, aber die Frage steht im Raum, ob es richtig ist, mit staatlichen Hilfeleistungen sterbende Zeitungen zu stützen und damit — anders ausgedrückt — florierende Blätter in ihrer Expansion zu hemmen. Eine so großzügige Hilfeleistung, daß nachher alle Zeitungen wirklich stark sind, ist ja wohl unmöglich.

Die Vielschichtigkeit des Problems wurde gerade jetzt noch an zwei völlig verschieden gelagerten schweizerischen Beispielen deutlich. Da war der Fall „Die Woche“. Diese illustrierte Wochenzeitschrift war vom Verlag Walter AG in Ölten herausgebracht worden und wollte — wie es nun in der Abschiedsnummer ausdrücklich hieß — stets „bewußt eine Alternative zu anderen Illustrierten bieten“. Der große Sprung gelang ihr nie, sie kam kaum je aus den roten Zahlen heraus, und je mehr die Produktionskosten stiegen, um so drohender wuchs das Gespenst der Kapitulation. Der Verlag stand vor dem Entscheid, die Illustrierte zu halten und 'damit den Verlag als solchen in Gefahr zu bringen, oder aber auf das vor fast einem Viertel Jahrhundert begonnene Experiment zu verzichten. Er verzichtete. „Die Woche“ fiel, wie es in der Abschiedsnummer wörtlich hieß, „dem Ungeist unserer Zeit zum Opfer“, was für den Käufer, den immer mächtiger werdenden Ringier-Verlag in Zofingen, keine allzu höfliche Dankadresse war! „Aber allzu viele Schweizer kauften ausländischen Nervenkitzel“, gestand die Redaktion ein: den 51.000 „Woche“-Abon-nenten und einigen tausend Kiosk-Käufern standen 1,4 Millionen Leser deutscher Illustrierter gegenüber.

Der Fall „Luzerner Neueste Nachrichten“ liegt genau umgekehrt: eine gut rentierende Zeitung hatte hinter sich einen schlecht gehenden Verlag. Verlagsbesitzerin Alice Bucher hatte sich „übernommen“ und ein modernes aber überdimensioniertes Tiefdruckunternehmen auf die Beine gestellt, das schließlich mehr als den Uberschuß verschlang, den die Zeitung abwarf. Wieder sprang Ringier hilfreich, in die Bresche und kaufte den C.-J.-Bucher-Verlag, in dessen Ästen als reife Frucht die „Luzerner Neuesten Nachrichten“ hingen. Mit der Redaktion ist auf jeden Fall die gesamte Öffentlichkeit gespannt, ob der neue Besitzer die politische Linie bestimmen wird oder nicht.

Die beiden Beispiele illustrieren die Fragwürdigkeit einer direkten Hilfe. Auf jeden Fall ist die Frage erlaubt, ob „Die Woche“ und die „Luzerner Neuesten Nachrichten“ ebenfalls in den Genuß einer Staatshilfe gekommen wären, wenn diese schon das Stadium des Studiums überwunden hätte und in Kraft wäre. Dann aber müßte man weiter forschen: Soll ein gutgehender Verlag (wie der Walter-Verlag) Geld erhalten, damit er eine notleidende Illustrierte weiterführen kann, und soll eine gutgehende Tageszeitung (wie die „Luzerner Neuesten Nachrichten“) Geld erhalten, um den schlecht geführten Verlag durchzuschleppen?

Niemand zweifelt daran, daß Pressehilfe nötig ist. Wie diese Hilfe aussehen und wer davon profitieren soll, steht auf einem anderen Blatt, das vorläufig noch nicht aufgeschlagen ist. Solange aber diese Fragen nicht geklärt sind, weiß auch niemand, wie sich eine staatliche Hilfe letzten Endes auf die Freiheit der Presse auswirken wird. Bisher war es auf alle Fälle immer so, daß jemand, der Hilfe in Anspruch nahm, automatisch in die Abhängigkeit vom Helfer geriet. Ob die Presse wirklich eine Ausnahme machen wird oder ob sie nicht, ein paar Jahre nach erhaltener Hilfe, plötzlich aufschreien wird: „Hilfe — mir wird geholfen!“?

Vorläufig werden sich immer noch Zeitungen und Zeitschriften mit jenem Kästner-Wort trösten müssen, das „Die Woche“ in ihrer letzten Ausgabe zu ihrem eigenen Trost zitiert hat:

„Die große Freiheit ist es nicht geworden, es hat beim besten Willen nicht gereicht. Aus Traum und Sehnsucht ist

Verzicht geworden.“

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