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Hilfe, Stofflawine!

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Der ungeheure Zuwachs an Wissen in den Naturwissenschaften, der höhere Erwartungshorizont im Fremdsprachenunterricht, der Wunsch, sich in der Zeitgeschichte und zeitgenössischen Literatur zurechtzufinden - all das überschwemmt die Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS). Es sieht so aus, als wollte sie eine Fachschule aller Fächer werden, statt Allgemeinbildung zu vermitteln und zur Hochschulreife zu führen.

Bildung ist kein additiver Prozeß, wobei dem Gedächtnis eine überragende Stellung zukommt, sondern die Entfaltung der Persönlichkeit und Weckung und Schulung ihrer Kräfte. Wagenschein hat dafür ein treffendes Bild: im ersteren Falle hat der Schüler einen Sack über den Rücken geworfen, in dem er die erworbenen Bildungsgüter verstaut. Aber wenn der Sack verlorengeht ... ?

Im Falle der echten Bildung steigt der Schüler selbst in den sich verzweigenden Baum des Wissens seiner Zeit ein, als einer, der sich entfalten und wachsen will. So wird das Erlebte, Entdeckte, Selbstvollzogene in ihm eine Spur hinterlassen, die nicht verlorengehen kann. Solche Art von Bildung prägt ihn. Er ist ein Wachsender in einem sich verändernden Wissen. Er ist zu einem dėpassement perpetuel fähig.

Also nicht Erledigung einer Wissensmaschinerie, sondern Begegnung des jungen Menschen mit dem Objekt (den Phänomenen, Themen etc.), mit dem er es zu tun hat, im Gespräch mit dem Lehrer und in der Gemeinschaft seiner Mitschüler.

Die Frage der Stoffreduzierung ist heikel, aber unbedingt notwendig. Der Inhalt der einzelnen Fächer muß festgestellt werden, wobei das Tragende, Zentrale eines Faches abgehoben werden muß vom Ausweitenden, Zusätzlichen, wo einzelne Kapitel gewählt werden müssen.

In der Unterstufe müssen die Lehrkräfte in enger Zusammenarbeit das Fundament legen. Der Unterricht im Elementaren gehört zum Schwierigsten, und offensichtlich gelingt er nicht überall. Nicht wenige Schüler haben Schwächen im Fundamentalen und ein Scheinwissen in zu schwierigen Materien. Die Rückkehr zum Fundamentalen in der AHS wäre sehr wichtig und damit die Abkehr von der Verwissenschaftlichung. Die Abstraktion erfolgt zu früh.

Die Feststellung der Inhalte eines Faches und der Wertigkeit (Gewichtung) der einzelnen Kapitel im Hinblick auf das weitere Verständnis des Faches, aber auch im Hinblick auf die Erwerbung grundsätzlicher Geistestätigkeit waren die Kriterien fürdas Fundament.

Wenn dieses gut gelegt ist, ist auf der Oberstufe erst recht eine Auswahl nötig. Es geht nicht darum, „im heiligen Dienst“ am eigenen Fach möglichst viele Kapitel in eine Klasse zu stopfen - am letzten Schultag vor Weihnachten noch schnell die Religionskriege, in einer Supplierstunde einen Akt von Heinrich V. oder die Ringelwürmer (was von der bangen Schülerfrage quittiert wird: kommt das zur Schularbeit?). Zu schnell und ohne wirkliches Verständnis gelerntes Wissen hinterläßt Blindheit.

Es geht wieder darum, Qualität vor Quantität zu setzen - nicht möglichst viele Kapitel durchzunehmen, sondern richtig gewählte Kapitel zum Gegenstand der Bildungsarbeit zu machen. Dies ist nicht so neu - immer schon mußte an Exempeln unterrichtet werden. Immer schon mußte im konkreten Einzelfall ein größerer Zusammenhang, ja das Ganze sichtbar gemacht werden. Es hängt von der Natur des Faches ab, wieviel und was man streichen kann. Eine Stoffentlastung muß erfolgen, sonst werden immer mehr Engpässe entstehen.

Das oberste Stückwerk dieses solid errichteten Gebäudes ist die Koordination der Fächer, die dem Schüler erlaubt, größere Zusammenhänge zu sehen. Das scheinbar beziehungslose Nebeneinander der Fächer ist unbefriedigend und desorientierend. Das Ahnen und Erleben der Einheit - sei es auch nur im Ansatz - ist beglückend. Letzteres überzeugt den Schüler. Sein inneres Mitgehen ist ein entscheidender Faktor für die erfolgreiche Zusammenarbeit.

Hier müßten alle Fachkollegen nach redlichen sachbemühten Überlegungen zurückstecken und koordinieren. Dies erfordert auch Fähigkeit und Bereitschaft zum fächerübergreifenden Denken. Karl Kraus sagte: Der Vielwisser ist oft müde von dem vielen, was er wieder nicht zu denken hatte.

Geben wir dem Schüler Gelegenheit, sich seiner Vernunft zu bedienen und sich am Entdecken und Erleben zu erfreuen.

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