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Digital In Arbeit

Hilfsbeurftigen beizustehen,ist ein Risiko wert

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Vor dem eisernen Tor der Haftanstalt hält ein Auto mit laufendem Motor. Hinter dem Steuer sitzt eine gepflegt aussehende Frau, auf den Rücksitzen - unruhig zappelnd - zwei Kinder. Das Tor öffnet sich, das Tor schließt. Der Mann, der herausgetreten ist - seit wenigen Minuten Ex-Sträfling -, nimmt im Wagen Platz. Zu Hause ist alles für das „Entlassungsfest“ vorbereitet. Zu Hause...

Das gibt es. Der Normalfall ist es nicht. Für die anderen, die vielen anderen, ist der Schritt in die Freiheit um nichts leichter als die Zeit hinter Git-tern. Die Welt wartet mit ihren lockenden Fallen. Der Entlassene ist das Gehen nicht mehr gewöhnt. Er torkelt, er fällt. Ohne Hilfe. Zurück ins Loch, ein ewiger Kreislauf. Lebenslänglich.

Der erste Schritt aus dem Gefängnis, die erste Zeit nach der Enüassung können entscheidend sein für das weitere Leben eines Menschen, der einmal gestrauchelt ist und nun das Vergangene abstreifen wilL In Wien versucht seit einigen Jahren eine Gruppe von Idealisten, bei diesem ersten Schritt Beistand zu leisten. Sie kommen von der Legio Mariae, Pater Leonhard Bianchi ist ihr Leiter. Sie haben eine Großwohnung gemietet, in der den Entlassenen ein erstes Zuhause geboten wird. Sie haben in den ersten sieben Jahren 21.000 Nächtigungen gezählt Wo hätten die Betreuten sonst geschlafen?

Auf den, der aus dem Gefängnis kommt, warten die Gefahren. Er braucht eine Wohnung, braucht Arbeit. Der Entlassungsschein der Strafanstalt ist nicht gerade die beste Empfehlung. Obdachlosenheime sind gefürchtet, Hotels zu teuer. Bahnhöfe, Parks, öffentliche Toüetteanlagen sind die Alternativen. Oder, wenn der Entlassene keinen Ausweg sieht, auch die „Flucht ins Gefängnis“. Zurück dorthin, wo man herkommt, wo man wenigstens ein Dach über dem Kopf hat

Die Arbeitssuche war in der Zeit der Hochkonjunktur kein besonderes Problem. Private Arbeitgeber haben gelernt, Verständnis für Strafentlassene zu zeigen. Aber in Zeiten der Arbeitslosigkeit häufen sich die Schwierigkeiten. Nun hat der Chef ja die Auswahl, wen er nehmen soU. Kann man es ihm verdenken, wenn er einen wählt, der keine Vorstrafen hat? Der Staat fällt als Arbeitgeber aus. Für die AnsteUung im öffentlichen Sektor wird das Leumundszeugnis verlangt das der ehemaüge Haftung nicht bringen kann. Während der Haft sorgt der Staat für die Weiterbüdung der Eingesperrten; darum, daß der so Ausgebildete seine Kenntnisse auch verwenden kann, kümmert er sich nicht.

Und wenn es mit der Arbeitssuche doch klappt - die Zeit bis zum ersten Lohn wird lang. Die Haftentschädigung ist gering, der Gefangene hat auch für Spezialarbeit keine Entlohnung, sondern nur ein winziges Taschengeld bekommen. Es reicht nicht lange, wenn draußen die Versuchungen der gefüUten Auslagen, der Reklame, der Wirtshäuser warten. Das Geld in der Tasche zu halten, gelingt nur wenigen. Und gerade in den ersten Tagen sind die Ausgaben groß: neue Kleidung, all die Dinge, die man zum täglichen Leben braucht, und die nun alle zugleich gekauft werden müssen. Auch Socken, Zahnbürste und Fahrkarten für die Straßenbahn belasten ein Budget, wenn es klein ist! Von den Ausgaben bei der Wohnungssuche ganz zu schweigen.

Außerdem melden sich sehr schnell die, die frühere Forderungen anzumelden haben. Bankschulden, Wiedergutmachungszahlungen, Alimente ... Der Entlassene ist mit Zahlungen eingedeckt bevor er die erste Lohntüte in der Hand gehalten hat. Und wenn die Lohntüte keine Tüte ist, sondern ein Lohnkonto auf der Bank,dann wartet der nächste Versucher auf den Menschen, der aus einer geschlossenen Anstalt kommt, in der er einige Monate oder auch viele Jahre keine Verantwortung zu tragen hatte. Die Banken gewähren Kredite, das Geld ist schnell aufgebraucht, die Rückzahlungen werden fällig. Werden sie nicht gezahlt dann pfändet die Bank den Lohn. Auch bis zum letzten Groschen, ein „Existenzminimum“ spielt für die Geldanstalten keine RoUe. Die „Resozialisierung“ ist ein Weg mit vielen Fallen ...

Und sie kann nur gelingen, die Resozialisierung, wenn die menschlichen Beziehungen stimmen, wenn der, der um seine Zukunft kämpft, in seinem Kampf nicht alleingelassen wird. Anschluß finden viele nur im Gasthaus, der Alkohol spielt den Vermittler. Alkoholismus ist oft die Folge. „Sozialalkoholismus“ hat ihn Pater Bianchi genannt, denn nicht der Alkohol hat die Schuld, die Mitmenschen haben sie. Weü sie nicht mehr fähig scheinen, jenen Kontakt herzustellen, zu dem dann der Alkohol verhelfen muß.

Viele der Häftlinge sind überhaupt durch diese Kontaktarmut auf die schiefe Bahn geworfen worden. Wer als Kind keine Liebe und kein Vertrauen erfahren hat, wie soll er später Liebe und Vertrauen schenken können? Gäbe es mehr gesunde Familien, gäbe es weniger Häftlinge. Es gibt wohl kern besseres Mittel zur Verbrechensvorbeugung.

Kontaktschwierigkeiten, Minderwertigkeitsgefühle, Depressionen sind aütägüche Erscheinungen unter den Strafentlassenen. Psychiatrische Hilfe lehnen sie ab; sie sind „ja nicht deppert“. Geistige Beschränktheit charakterisiert ebenfalls viele der ehemaligen Häftlinge, meint Pater Bianchi. Sie sind dem komplizierten Leben unserer Zeit geistig einfach nicht gewachsen. Die Beschränktheit hindert die Berufsarbeit, sie hindert auch die Eingliederung in die Gesellschaft und macht die Entlassenen zu Marionetten der modernen Verführer. Der clevere Verbrecher der Krimis ist ein lächerliches Klischee. Aber an ihm werden.in der Öffentlichkeit die Gefangenen gemessen.

Einstiegshüfe in das normale Leben wül die Aktion sein, die die Laienbewegung der Legio Mariae in Wien den Entlassenen anbietet; einem sehr kleinen Teil der Entlassenen, denn die Wohnstätte konnte nur zehn bis zwölf Männern Platz bieten. Dadurch konnten in den sieben Jahren 226 Strafentlassenen aufgenommen werden.

Aufgenommen ins Heim, Arbeit gefunden, menschliche Kontakte angeknüpft, nach einigen Wochen konsolidiert „ins Leben“ entlassen. So romantisch sieht die Wirklichkeit leider nicht aus. Nur 91 der 226 konnten so verabschiedet werden, wie es die Betreuer-lauter Freiwillige, die die Arbeit un-entgeltlich als Nebenbeschäftigung leisten - gerne in allen Fällen sehen würden. Neun wurden noch während des Heimaufenthaltes rückfällig; knapp ein Drittel verschwand eines Tages ohne Abmeldung. Schulden, Schlamperei, Angst vor Nachforschungen - die Gründe sind vielfältig. 48 Mann schließlich mußten gekündigt werden. Wo mehrere Menschen auf engem Raum leben, da muß ein Mindestmaß an Ordnung und Disziplin herrschen, um das Dasein nicht für alle zur Hölle zu machen.

Nicht jeder kann aufgenommen werden. Art des Vergehens und Länge der Vorstrafe spielen keine RoUe, Alkoholiker oder Randalierer sind ausgeschlossen. Man wül durch schlechtes Beispiel nicht andere in Versuchung führen. Freilich, die Möglichkeit besteht immer, ein weißes Schaf zugewiesen zu bekommen, das sich dann als schwarzes erweist.

Das Heim wurde aus Spenden und gebrauchtem MobiUar ausgestattet. Die Hausordnung sieht vor, daß die Wohnung an Werktagen um 7.30 Uhr geschlossen und erst um 17 Uhr wieder geöffnet sein wird. Spätestens um 22 Uhr soUen aUe wieder zurück sein. Die Aufnahme ist für drei Monate vorgesehen, Verlängerungen werden stülschweigend gewährt, wenn gute Gründe vorhegen. Das Heim der Legio Mariae soll eine Hilfe für die Rückkehr in die Freiheit sein, kein billiges Dauerquartier. Die Vorteile der Absteige liegen auf der Hand: Keiner ist einsam, man hat Rückhalt im Heim und fühlt sich akzeptiert - und man ist ein freier Mensch, der lernen kann, für seinen Unterhalt selbst zu sorgen, ohne die Angst, beim ersten Mißgeschick wieder aUein auf der Straße zu stehen. • “•

Es ist dies keine romantische Weihnachtsgeschichte. Es ist ein Experiment, das in Wien läuft, und das mit großen Schwierigkeiten läuft. Mit größeren wohl, als die, die es gestartet haben, am Anfang gedacht hätten. Die Arbeit mit Menschen erfordert das Eingehen auf jeden einzelnen. Nicht allen kann geholfen werden, ist eine der traurigen Erkenntnisse des Experimentes von Wien. Einzelne können zerstören, was viele mit Geduld aufgebaut haben. Nach Jahren ohne Beanstandung verübte einer der Insassen in einer anderen Wohnung des Hauses einen Diebstahl. Dem Heim wurde daraufhin der Mietvertrag gekündigt. Im letzten Augenblick konnte eine Ersatzwohnung beschafft werden. Die Arbeit konnte weitergehen.

Eine weitere Erkenntnis, die die Betreuer gewonnen haben: Den Krimi-neUen, den Haftentlassenen gibt es nicht. Es gibt viele KrimineUe, viele Entlassene. Jeder hat seine eigenen Persönlichkeit, jeder sein eigenes Schicksal, und die Küschees, die sich gebildet haben, stimmen fast nie mit der Wirklichkeit überein. Weder das vom „harten Burschen“, noch das von der „Verbrecherclique“, die zusammenhält wie Pech und Schwefel, und schon gar nicht das vom „schlechten Menschen“, der ein Gesetzesbrecher notwendigerweise zu sein hat. „Schwäche und Haltlosigkeit, Labilität und Unsicherheit soüte man um Himmels wülen nicht mit Schlechtigkeit und Bösartigkeit verwechseln“, sagt Pater Bianchi, der täglich im Heim ist und seine Schützlinge kennengelernt hat. Und nebenbei bemerkt: Wer ist „schlechter“? Der, der ein Gesetz übertreten hat, oder der, der etwa - ohne je mit irdischen Gesetzen in Konflikt zu kommen - seine Frau sitzengelassen und dabei zerbrochen hat?

Hüfsbedürftig - das sind die Menschen, die eine Gefängnisstrafe hinter sich haben, allerdings in fast jedem FaU. Von Resozialisierung darf nicht nur geredet werden. Die Gruppe der Legio Mariae in Wien tut auch etwas, riskiert etwas. Die Integration von Außenseitern in die GeseUschaft, Endziel jeder Resozialisierung, ist auch ihr nur selten gelungen. Für manche war die Aufnahme in der kleinen Gruppe im Heim der Übergang in ein geregeltes Leben, für viele nicht. Illusionen schwinden, das Risiko bleibt. Aber, so lautet Pater Bianchis Leitwort, „HUfs-bedürftigen beizustehen, ist ein Risiko wert!“

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