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„Hinausgeekelt“

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FURCHE: Tausende kehren momentan der Deutschen Demokratischen Republik über Ungarn den Rücken. Wie ist die Stimmung im zweiten deutschen Staat?

Das ist ein Problem, über das alle sprechen -ausgenommen vielleicht die ganz offizielle Führungsschicht. Die Haltung ist überwiegend von Sympathie für die Ausreisenden geprägt, mit unterschiedlichen Schlußfolgerungen für die eigene Person. Das reicht von Fragen wie: Können wir es aufgrund der jetzigen Politik und der ökologischen Situation in der DDR überhaupt noch verantworten, hier weiterzuleben? bis hin zu einem bei alteren Menschen doch gewissen Verwurzeltsein in der Heimat und einem gewissen Unverständnis gegenüber den so fluchtartig Ausreisenden.

FURCHE: Was sagen jetzt die DDR-Medien?

RATHENOW: Bekannt geworden ist die ADN-Meldung mit dem Vorwurf des Menschenhandels an die ungarische Regierung. Es ist natürlich beschämend, wenn ein Staat, der alljährlich tausend politische Häftlinge an die Bundesrepublik Deutschland nun wirklich eindeutig verkauft, anderen dies vorzuwerfen versucht.

Solche Meldungen und die ganze Art der Berichterstattung oder Nicht-Berichterstattung tragen eher dazu bei, Leute weiter aus dem Land hinauszuekeln. Ich glaube, daß die Diskrepanz zwischen dem, was verordnet wird, und dem, was die Leute wirklich denken und diskutieren, noch nie so groß war wie jetzt.

FURCHE: Was ist Ihre persönliche Meinung zu den Ausreisern. Sie selbst sind im Mai nach einem Wien-Trip in die DDR zurückgekehrt.

RATHENOW: Das ist eine sehr existenzielle Frage (siehe dazu Seite 8, Anm. d. Red.). Wenn man über das Leben in der DDR spricht, darf man eines nicht vergessen: Es gibt hier Leben außerhalb dessen, was der offizielle Staat darstellt. In gewisser Weise hat sich die Regierung ja ein anderes Volk gewählt, und dieses Volk wird manchmal zu offiziellen Demonstrationen zusammengerufen. Aber das hat mit der Bevölkerung, die ich kenne, nichts zu tun.

Ansonsten bewegt sich in der DDR, zum Beispiel in der künstlerischen Szene, sehr viel. Es sind in jüngster Zeit sehr viele kreative Energien nach oben gekommen. Es gibt ein zunehmendes politisches Selbstbewußtsein, was sich in manchen oppositionellen Gruppen, die gewiß noch klein sind, schon zeigt. Mich halten also durchaus eine ganze Menge Dinge in der DDR.

Außerdem sehe ich den Aspekt der nationalen Verantwortung und wünsche mir eigentlich eine linke Deutschlandperspektive, die sich von dem rechten Großdeutschlandmuffel deutlich abhebt. Für mich selbst hat sich die Frage der Rückkehr oder Nicht-Rückkehr gar nicht gestellt.

Ich erkenne in der verstärkten Flucht einen Beleg für einen stärker gewordenen Unmut; auch für eine Unlust - gerade bei jungen Menschen - mit dem Staat über eine mögliche Ausreise überhaupt noch zu verhandeln. Sie ist weiters ein Beleg für den fortschreitenden Autoritätsverlust. Das ist nicht nur politisch geprägt, sondern sitzt emotional sehr tief.

FURCHE: Geht mit den Flüchtlingen der DDR nicht auch ein Oppositions- beziehungsweise Reformpotential verloren?

RATHENOW: Diese Ausreisewelle ist nicht die existierende große Krise in der DDR. Sie ist ein VentiL Ohne dieses Ventil würde es keine äußerlich noch ruhige und relativ stabile Situation in der DDR geben. In gewisser Weise nützt die Ausreise also dem System

Die Leute, die jetzt gehen, sind aber nicht der politischen Opposition zuzurechnen. Oppositionelle sind schon in den frühen achtziger Jahren ausgereist oder ausgereist worden. Und nach wie vor gibt es diese Bemühungen in der DDR, einzelne Oppositionelle zum Ausreisen zu bewegen. Auf längere Sicht glaube ich, daß nur ein Zunehmen der eigenen Opposition, ein Zunehmen der Reformkräfte innerhalb der Partei und ein gleichzeitiger Druck des ständigen Ausreisens sowie westlicher Öffentlichkeit und Politiker (vielleicht auch östlicher Öffentlichkeit und Politiker) die notwendigen Reformen in der DDR erzeugen werden. Ich finde, daß die Stimmung für einzelne Leute, die Freunde verloren haben, gedrückter, für andere auch offener geworden ist. Man traut sich wieder mehr zu sagen, was man denkt

Es ist eine Umbruchstimmung, die besagt, daß es eigentlich nicht mehr lange so weitergehen kann.

FURCHE:In welchen Kreisen ist diese Umbruchsstimmung am ehesten festzumachen?

RATHENOW: Am deutlichsten zeigt sie sich unter den Intellektuellen in einer sehr bösartigen, frechen Abrechnung und selbstverständlich offenen Sprache. Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich vom Sozialismus, den sienicht mehr für reformfähighält, abgewandt. Die absolute Mehrheit der Oppositionellen, der künstlerisch-intellektuellen Kräfte, will aber eine sozialistische Reform. Da gibt es ein gewisses Aneinander-vorbei-Reden. Für den Staat könnte es aber sehr bald notwendig sein, eine Opposition zu haben, die eine ansonsten eruptiv auftretende politische Unzufriedenheit kanalisiert.

Mit dem Ostberliner Literaten sprach Franz Gansrigjer.

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