6977622-1985_51_01.jpg

Hineingeboren in Zeiten und Kulturen

19451960198020002020

In den Tagen der stillen Meditation tun wir gut daran, uns die Frage zu stellen: Was würde Jesus von uns verlangen, erschiene er unter uns?

19451960198020002020

In den Tagen der stillen Meditation tun wir gut daran, uns die Frage zu stellen: Was würde Jesus von uns verlangen, erschiene er unter uns?

Werbung
Werbung
Werbung

Der Weihnachtsaltar in einer kleinen ungarischen Stadt heißt altare opilionum, Hirtenaltar. Nicht nur deshalb, weil er die Anbetung Jesu durch die Hirten darstellt, sondern auch, weil das Altarbild einst von Hirten gestiftet worden ist: Hirten mit charakteristischen Gesichtszügen und in der Gegend üblichen Kleidung knien vor dem neugeborenen Kind. Jesus wurde nicht nur in Betlehem geboren, sondern auch unter den ungarischen Hirten. An konkretem Ort und zu konkreter Zeit, den Gesetzen der menschlichen Geburt sowie denen des Staates durch die Eintragung der Behörden unterworfen. Er ist aber weder an das eine noch das andere gebunden, weil er das eine sowie das andere als das Seine erkennt.

Das einmalige Geschehnis der Menschwerdung wurde zum Kontinuum im Leben der Menschheit: Jesus muß in alle Zeiten und Kulturen hineingeboren werden. Sein Erscheinen fordert unsere menschliche Antwort heraus: Nehmen wir ihn auf oder lehnen wir ihn ab? Die volkstümlichen Szenen malen die Bemerkung der Schrift, „sie fanden keinen Platz in der Herberge“, nicht von ungefähr aus. Jesus sucht ständig Herberge auf der Bühne dieser Welt und ihrer Geschichte. Nur dann kann er in jedem Menschen und in jeder Kultur geboren werden, wenn wir ihn im Glauben beherbergen und großziehen.

Was geschieht, wenn er erscheint? Wenn jemand in einem Schauspiel die Bühne betritt, ändern sich die Kraftverhältnisse, die Beziehungen der handelnden Personen. Wir haben die Möglichkeit, auch uns selbst in das Spiel hineinzuleben. In den Tagen der stillen Meditation tun wir gut daran, uns die Frage zu stellen: Was würde Jesus von uns verlangen, erschiene er unter uns? In vergangenen Jahren hat man in verschiedenen Ländern bekannten Persönlichkeiten die Frage gestellt: Was bedeutet Ihnen Jesus? Die Nichtgläubigen antworteten darauf meist sinngemäß: Jesus ist eine unübertreffliche Idee der Menschheit. Für jeden Menschen und jede Gesellschaft wäre es wichtig, sich mit der reinen Idee dieser Vollkommenheit zu messen.

Mit Jesus ist nicht nur eine neue Gestalt im Faust'schen Drama der Menschheit aufgetreten, sondern der Verfasser selbst. Die leibliche Entfaltung des Stückes ist unter uns erschienen: der, „in dem wir leben, uns bewegen und sind“. Der Mensch ist sich allein nicht genug, er kann sich nicht mit geringem abfinden. Nur das unendliche Geheimnis Gottes ist sein Maß. Jesus, der Mensch, der Vollkommene, ist unter uns gegenwärtig: er, von Gott erfüllt, von ihm aufgenommen, in der Einheit der Liebe. Kulissen, Kostüme sind nicht mehr wichtig: die Tiefen des Menschen offenbaren sich, jene ewigen Sehnsüchte und Möglichkeiten, durch die unsere Selbstverwirklichung stattfinden kann.

Sein Geschenk wird aber zu nichts ohne unsere Anstrengungen. Kultur heißt: pflegen. Von der Agrikultur, der Bestellung des Feldes, bis zur Pflege der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Kunst. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Kultur, die der Selbstverwirklichung des Menschen. In diesem Schaffen von Kultur setzt sich die Inkarnation fort. Jesus hüllt sich nicht in das Kostüm unserer Zeit, um als unser Zeitgenosse erscheinen zu können. In ihm muß sich jeder selbst erkennen: er erscheint nicht unter uns, sondern in uns und durch uns.

Wenn wir unsere Tiefen offenbaren, also Kultur gestalten, bewegt Jesus sich in uns. Der zum Mensch gewordene Gott hilft dem Menschen, ein besserer Mensch zu werden. Geburt und Gebären zugleich. Geburt: unser Dasein kommt von seiner schöpferischen Liebe und nicht von unserem eigenen Streben. Unser Glaube ist Antwort auf seine Liebe, unsere Kultur nach seinem Willen das Aufblühen unseres Menschseins, das irdische Leistungen nie begrenzen. Aber auch Gebären: als Mutter bringen wir den zum Menschen Gewordenen zur Welt Der Glaube an Jesus schafft Kultur. Von den Gregorianischen Gesängen bis zu den gotischen Kathedralen des Mittelalters, von Bachs Musik bis zu der Gott suchenden Dichtung jedes Zeitalters erfahren wir den strebenden Glauben des Menschen, das in uns Herberge suchende göttliche Leben.

Jesus läßt sich von keinem Zeitalter enteignen. Die in der Inkulturation weiter währende Inkarnation ist ein historischer Prozeß, in welchem das Göttliche und das Menschliche in ständiger Spannung verbunden sind. Wollten wir diese Spannung auflösen, würden wir das werdende Gotteskind töten. In unseren Tagen dringen hauptsächlich die außerhalb Europas lebenden Völker auf Inkulturation. Das sich christlich nennende Europa hat hier schon einen seiner Fehler erkannt. Wir versuchten, das in unserer Hand europäisch gewordene Christentum als eigenes Gut in die Dritte Welt zu exportieren, die dort Lebenden zu zwingen, mit dem Christentum auch unsere Kultur aufzunehmen.

Das über langwährende Erfahrung verfügende Europa kann von sich sagen, es habe die Christenheit „inkulturiert“. Jesus kann aber keine einzige Kultur in sich aufnehmen. Wenn wir die Inkarnation als vollendet betrachten — haben wir dann das Gotteskind zur Welt gebracht? Oder es getötet? Unsere postchristliche Gesellschaft hat Christus angenommen, ihn aber gleichzeitig auch verloren: Sie hat sich von der Quelle entfernt, in der er gegenwärtig, lebendig und zum Leben gewillt ist. Jesus und das Evangelium sind zu „Kulturschätzen“ geworden.

Man kann aber Jesus von unserer Erde nicht nur fernhalten, wenn man ihn verjagt, sondern auch, indem man ihn zum Kulturgut degradiert: Man reiht die Bibel in die berühmten Mythen der Welt ein und erniedrigt unsere Kirchen zu Sehenswürdigkeiten für Touristen. Zum musealen Gegenstand ist erstarrt, den wir einst als lebendiges Kind in uns aufgenommen haben. Jesus sucht heute wieder Herberge in uns, unter uns. Seine Neugeburt, seine Beherbergung ist zu unserem Glauben geworden, dadurch aber auch zur wichtigsten Aufgabe unseres Glaubens, also unserer Kultur. Inkulturation verlangt von Europa heute die Wiederentdeckung der Inkarnation: Mit dem Staunen der einstmaligen Barbarenvölker und mit der Liebe der Bekehrten können wir ihn in uns aufnehmen.

Der Autor ist Chefredakteur der katholischen ungarischen Monatszeitschrift „Vigilia“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung