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HINRICHTUNG VOR SONNENAUFGANG

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Die Menschenrechte setzen dem Recht des Staates, Sanktionen zu verhängen eine Grenze. Die Folter wird in den westlich-humanistischen Demokratien übereinstimmend abgelehnt. Bei der Todesstrafe ist das anders. Vielfach unterliegt man dem Fehlschluß, aufgrund moderner Methoden sei sie kurz und schmerzlos.

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Die Menschenrechte setzen dem Recht des Staates, Sanktionen zu verhängen eine Grenze. Die Folter wird in den westlich-humanistischen Demokratien übereinstimmend abgelehnt. Bei der Todesstrafe ist das anders. Vielfach unterliegt man dem Fehlschluß, aufgrund moderner Methoden sei sie kurz und schmerzlos.

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„Sehr geehrter Herr Rüssel! Gemäß dem Artikel 43,14 des texani-schen Gesetzes über Strafverfahren setzt dieses Gericht Ihre Hinrichung für den 19. September 1991 vor Sonnenaufgang fest. Die besagte Hinrichtung wird durch intravenöse Injektion einer Substanz bzw. mehrerer Substanzen vollzogen, die in einer tödlichen Menge ausreichen wird, Ihren Tod zu verursachen. Besagtes Verfahren wird vom Direktor vom In-stitutional Division of the Department of Criminal Justice festgelegt und überwacht werden. Herzlichst, Bra-dy G. Elliott, Bezirksrichter."

James Rüssel, ein Afro-Amerika-ner aus katholischer, armer Familie, wurde wegen angeblichen „kidnapp murder" an einem weißen Geschäftsmann in Texas 1977 zum Tode verurteilt. Sowohl seine ehrenamtlichen Anwälte als auch alle, die sein Schicksal und die Dokumentation seines damaligen Prozesses kennen, sind überzeugt, daß er für etwas verurteilt wurde, das er nicht begangen hat.

Sein Verfahren war unfair. Der Richter war betrunken, der Verteidiger krank und inkompetent, die Jury rein weiß und für die Todesstrafe, die Zeugen der Verteidigung wurden nicht vorgeladen oder nicht angehört. Seit 1977 kämpft James Russell um die Wiederaufnahme seines Verfahrens. Neue, handfeste Beweise liegen vor. Alle Instanzen der US-Justiz haben den Appell um Wiederaufnahme abgelehnt. Zuletzt der Supreme Court im Juni 1991. Das Schicksal von James Russell hängt nun von der Gouverneurin des Staates Texas ab. Sie kann ihn begnadigen, oder den Fall nicht bearbeiten. Letzteres würde am 19. September den Tod eines Unschuldigen bedeuten.

Politisches Mittel

Solche Fälle sind keine Seltenheit. Immer wieder werden Todesurteile aufgrund von Fehlurteilen vollstreckt. In Amerika ist die Mehrheit der Bevölkerung für die Todesstrafe. Selbst Politiker gehen neuerdings mit „ProTodesstrafe-Parolen" auf Stimmenfang, obwohl sie sich früher dagegen ausgesprochen hatten. In den USA sitzen derzeit 2.000 Menschen in der Todeszelle und warten auf ihre Hinrichtung.

Nach den letzten Zahlen über den weltweiten Umgang mit der Todesstrafe haben 86 Länder die Todesstrafe durch ein Gesetz oder de facto durch Nicht-Anwendung abgeschafft.

Somit geben sich immerhin 48 Prozent aller Staaten als Gegner der Todesstrafe zu erkennen. Von den 86 Todesstrafegegnern haben 44 die Todesstrafe gänzlich aus dem Strafrecht getilgt, 17 haben sie für gewöhnliche Verbrechen geächtet und 25 wenden die menschenrechtswidrige Todesstrafe - Artikel drei und fünf der Menschenrechtserklärung -in der Praxis nicht mehr an.

92 Länder halten an der Todesstrafe fest und wenden sie auch an. 2.029 Gefangene wurden im Jahr 1990 in insgesamt 26 Ländern der Welt hingerichtet, 54 Staaten verhängten 2.005 Todesurteile. Wie in den Jahren davor wendeten nur vier Staaten die Todesstrafe besonders häufig an: 84 Prozent aller Hinrichtungen im Jahr 1990 wurden aus China, Nigeria, dem Iran und der Sowjetunion gemeldet.

„Unnachgiebige Härte" wenden nach wie vor die chinesischen Behörden zur Verbrechensbekämpfung an: Über 100 Todesurteile ergingen jeden Monat des heurigen Jahres. Im Vorjahr wurden mindestens l.OOOTo-desurteile verhängt und zumindest 750 davon vollstreckt. Die Todesstrafe ist oft ein politisches Mittel. China verhängt auch bei schweren Wirtschaftsverbrechen, bei denen keine Gewalt im Spiel ist, die Todesstrafe.

In Amerika kann der Todeskandidat zwischen drei verschiedenen Hinrichtungsarten wählen: Gaskammer, elektrischer Stuhl oder tödliche Injektion. Im westafrikanischen Land Nigeria findet die Exekution durch Erhängen oder Erschießen statt. Nigeria zählt zu jenen Staaten, in denen in den zurückliegenden Jahren die meisten Hinrichtungen vollstreckt wurden. Allein 1990 wurden über 120 Exekutionen bekannt, mindestens 106 Personen erhielten nach „amnesty international" Todesurteile.

Eine positive Meldung: Im Jahr 1990 schafften sieben Staaten - Andorra, die CSFR, Ungarn, Irland, Mo-zambique, Namibia und Sao Tome and Principe - die Todesstrafe restlos ab. In Südafrika gibt es derzeit emsthafte Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe.

Weltweit gibt es eine positive Tendenz gegen die Todesstrafe. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Artikel 3 - Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Artikel 5 - Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

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