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Hinter „Entspannung“ stehen Panzerdivisionen

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Henry Kissingers Visiten in Bonn und Berlin nach seiner Begegnung mit Andrej Gromyko in Wien und kurz vor Beginn der NATO-Konferenz in Brüssel waren die Fortsetzung einer im Hotel Imperial am Ring begonnenen Bestandsaufnahme, diesmal auf der „eigenen“ Seite, Müßig zu fragen, ob es vor dem Hintergrund des zunehmend undurchsichtigeren militärischen Kopf-anKopf-Rennens der beiden Supermächte bloß eine diplomatische oder auch eine militärische Heerschau war. Kissinger hat jüngst in einer vertraulichen, jedoch bald weltweit durchgesickerten Bemerkung prophezeit, Europa werde in zehn Jahren „marxistisch“ sein. Auch wenn diese Vokabel — wohl bewußt — manche Deutung zuläßt, ist sie bisher nicht in den Papierkörben abseits der diplomatischen Tische des westlichen Bündnisses verschwunden. Schon gar nicht von jenem des stärksten europäischen NATO-Partners in Bonn. Allein von daher ist es kein Zufall, daß der Außenminister Washingtons nach dem amerikanischen Rückzug aus Indochina die Bundesrepublik als ersten NATO-Staat besucht hat.

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Henry Kissingers Visiten in Bonn und Berlin nach seiner Begegnung mit Andrej Gromyko in Wien und kurz vor Beginn der NATO-Konferenz in Brüssel waren die Fortsetzung einer im Hotel Imperial am Ring begonnenen Bestandsaufnahme, diesmal auf der „eigenen“ Seite, Müßig zu fragen, ob es vor dem Hintergrund des zunehmend undurchsichtigeren militärischen Kopf-anKopf-Rennens der beiden Supermächte bloß eine diplomatische oder auch eine militärische Heerschau war. Kissinger hat jüngst in einer vertraulichen, jedoch bald weltweit durchgesickerten Bemerkung prophezeit, Europa werde in zehn Jahren „marxistisch“ sein. Auch wenn diese Vokabel — wohl bewußt — manche Deutung zuläßt, ist sie bisher nicht in den Papierkörben abseits der diplomatischen Tische des westlichen Bündnisses verschwunden. Schon gar nicht von jenem des stärksten europäischen NATO-Partners in Bonn. Allein von daher ist es kein Zufall, daß der Außenminister Washingtons nach dem amerikanischen Rückzug aus Indochina die Bundesrepublik als ersten NATO-Staat besucht hat.

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Die Menetekel, die Kissingers resignierenden Zukunfts-Pessimismus zur Schau stellen, sind im wörtlichen Sinn Legion: Der Dollar schwindsüchtig, Amerika wirtschaftlich und militärisch frustriert. Die schweren Probleme des stärksten europäischen

Partners, die deutsch-deutschen Beziehungen, bilden nach allen bisher nicht honorierten Bonner Vorleistungen unter Brandt, Scheel und Bahr an die Regierungen in Moskau und Pankow die Fortsetzung einer bitteren Krankengeschichte.

Das nichtsozialistische Europa, rund um den nichtsozialistischen Teil Deutschlands, bietet vom Mittelmeer bis zum Atlantik das Bild politischer und militärischer Widersprüchlichkeiten: In Italiens staatlichen und politischen Organisationen droht das Chaos. Gegensätze explodieren in Gewaltakten. Als „Ordnungsfaktor“ drängt die kommunistische Partei zur Macht. In den jugoslawischen Teilrepubliken gärt es.

Die persönlichen Beziehungen Kissingers zum israelischen Kabinett gelten als gespannt. Von den Vorbereitungen für die Begegnung des US-Außenministers mit Ägyptens Staatschef Sadat in Salzburg hieß es, sie seien von Ratlosigkeit gekennzeichnet gewesen.

Daneben haben die noch nicht voll absehbaren, jedoch gewiß nicht rosigen Aussichten der Energiewirtschaft Kissinger zu einer negativen Lagebeurteilung motiviert. Zwar gehen die Versorgungsprobleme auch an der Planwirtschaft des Sowjetblocks nicht spurlos vorüber; doch wie man aus der Geschichte des Faschismus, auch des deutschen, weiß, kann eine Diktatur für solche Schwierigkeiten viel leichter die Bevölkerung zum unmittelbaren Blitzableiter machen.

Nicht eben zuversichtlich dürften Kissinger auch die Metastasen links-

ideologischer sowie unmaskiert extremistischer Agitation in manchen Ländern der Europäischen Gemeinschaft und der NATO stimmen. Ob etwa Portugal aus dem kommunistischen Koma erwacht, wie man es nach den Wahlen gehofft hat, ist, gelinde ge-

sagt, fragwürdig. Die in Machtpositionen sitzenden radikalen kommunistischen Kräfte werden sich kaum freiwillig zurückziehen.

Ein Streit zwischen den Bonner Bundestagsparteien über das bedrohliche Schwanken Portugals kam bei der Parlamentsdebatte über die deutsche Bündnispolitik am 15. Mai indes nicht auf. Doch angesichts der wachsenden Manövrierunfähigkeit einzelner NATO-Mitgliedsstaaten wird es künftig nicht genügen, beschwichtigende Treuebekenntnisse zur westlichen Allianz als Alibi gelten zu lassen. Portugals Außenminister, Melo Antunes, beeilte sich erst jetzt, in Bonn seinem Kollegen Hans-Dietrich Genscher zu versichern, an der portugiesischen Treue zur NATO werde sich nichts ändern. Auch den Handel mit der Europäischen Gemeinschaft wolle Lissabon ausweiten. Und Genscher signalisierte dafür dem Atlantikpartner, der unter anderem wegen der amerikanischen Stützpunkte auf den Azoren so bedeutsam ist, Bonn wolle sich in der EG für ein neues Verhandlungsmandat zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Portugal stark machen, das noch vor der Sommerpause verabschiedet werden solle. Darüber hinaus winkte die Bundesrepublik mit mehr als 70 Millionen DM Entwicklungshilfe für Lissabon. Doch Genscher machte seinem portugiesischen Gast bei dessen Pflngstvisite auch klar, daß man als Gegenleistung eine aktivere Mitwirkung Portugals im NATO-Bündnis erwarte.

Unterdessen aber werden in Portugal die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialisten

zunehmend heftiger. Selbst die bei der Konferenz von Jalta, im Februar 1945, vorgenommene Teilung der Welt in Interessensphären scheint hier angesichts der Entwicklungen an Gültigkeit zu verlieren. Niemand kann mit Sicherheit vorhersehen, ob dieses Land längerfristig ein NATO-Stützpunkt bleibt, oder ob eine künf-

tige kommunistische Regierung in Lissabon den Russen die Tore öffnet. Sieht es wirklich niemand vorher? Kissinger?

Zum Appellplatz für die Verteidigungsfront wählte Washington Berlin, jenes für Amerika heute noch intakte Symbol westlicher Festigkeit. Die Berliner verstünden „besser als alle anderen, was Freiheit bedeutet“, sagte Kissinger vor dem Abgeordnetenhaus an der Spree, den laxeren europäischen;. Partnern mit ~ dem ZäurWahL^iitkend-.'Es bedurfte keiner Darlegungen des Unterschiedes zu Saigoner Versäumnissen in amerikanischer Sicht. Kissinger an die Berliner, Washingtons Freiheitsgarantien für den Westen unterstreichend: „Sie haben überlebt und sind zu Wohlstand gelangt, weil die Solidarität der westlichen Allianz ihre Sicherheit und die Sicherheit Westeuropas stützt.“

Und auf die eigene, auch nach Vietnam noch recht breite Schulter klopfend, fügte Kissinger hinzu, er sei hier, um „im Namen Präsident Fords und des amerikanischen Volkes“ für die geteilte Stadt „erneut unsere historischen Beziehungen zu bekräftigen“. Eine Erneuerung von John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner!“ an jenem sonnigen 26. Juni 1963? Immerhin: Die von Kissinger jetzt wiederholte Forderung nach (.peinlich genauem Einhalten“ des Viermächte-

abkommens vom September 1971 über den besonderen Status von ganz Berlin trägt Anzeichen, durchaus ernst gemeint zu sein. Gemeinsam mit Frankreich und England haben die USA dem Moskauer Anspruch, den Ostsektor Berlins als integralen Bestandteil und als „Hauptstadt der DDR“ auszugeben, erst in diesen Ta-

gen eine weitere schroffe Absage entgegengestellt.

Die Zielgruppen für US-Verteidigungschef Schlesingers diplomatisch tongeflltertes Grollen bei der Brüsseler NATO-Außenministerkonferenz waren neben Portugal die Holländer, besonders aber die Griechen uh,d die Türken, deren Zwist untereinander dem Bündnis eine seiner heute verwundbarsten Stellen zugefügt hat. pie Amerikaner müssen es als bedrückend empfinden, daß an der europäischen Südflanke zwei NATO-Staaten ihre Waffen drohend gegen-, einander richten. Ankara wurde dennä auch nach Deutschland zu Kissingers nächster Kanzel für diplomatische Standpauken. Der US-Außenminister forderte hier vehement türkische Zugeständnisse in der Zypernfrage. Die Türken sollen einen Teil des von ihnen besetzten zyprischen Gebietes räumen. Kissinger soll in Ankara erklärt haben, das amerikanische Repräsentantenhaus werde den Liefer-stop für Waffen in die Türkei erst aufheben, wenn sich auf Zypern Fortschritte abzeichneten. Schlesinger, gleichfalls in Moll, mahnte die Verbündeten beim Brüsseler Treffen, künftig würden die USA nur mehr die verteidigen, die in der Lage seien, sich selbst zu schützen. Nur dann, wenn Europa einem konventionellen Angriff aus dem Osten widerstehen könne, seien die Amerikaner bereit, atomaren Schutz zu gewähren. In den nächsten Jahren

müßten die Rüstungsausgaben Westeuropas um drei bis fünf Prozent steigen. Das entspreche nämlich genau den sowjetischen Mehraufwendungen.

Ihre hauseigene Ausstattung mit taktischen Atomwaffen wollen die USA erweitern, um in Europa einen angemessenen Teil der gesamten nuklear-taktischen Streitkräfte belassen zu können. Was indes die konventionellen Truppen betrifft, so muß nach Überzeugung Schlesingers seitens der europäischen Partner eindeutig mehr getan werden. Die Verteidigungsminister aus 13 Ländern — Frankreich und Griechenland gehören der militärischen Organisation nicht mehr an — beschlossen denn auch bei ihrer Brüsseler Konferenz, jeder NATO-Staat müsse seine Verteidigungsausgaben entsprechend seiner Wirtschaftskraft jährlich erhöhen, solange jedenfalls, bis der Warschauer Pakt kein weiteres Wettrüsten mehr erzwingt.

„Entspannung“: Vorher und nachher

In früheren Jahren, als die NATO noch voll funktionsfähig und selbstbewußt war, hatte das heute tausendfach mißbrauchte Wort „Entspannung“ noch eine verläßlichere Qualität. Inzwischen hat sich die Weltlage freilich verändert. Nach den Jahren von Leonid Breschnjews Entspannungsgesängen gewann das, was Kommunisten damit meinen, in Vietnam und Kambodscha makabre Deutlichkeit. Der Kreml setzt zunehmend auf das Schwinden der europäischen Solidarität mit den Vereinigten Staaten.

Hinter den sowjetischen Beteuerungen von Entspannung und Koexistenz stehen bis auf die Zähne gerüstete Divisionen, vormilitärische Jugendausbildung und eine „Informationspolitik“ nach innen, die fast ausschließlich Feindbilder vom Westen -zeichnet. Die Breschnjew-Dok-trin ist in Wahrheit für den Ostblock ein Abwehrwall gegen echtes Wirksamwerden der Entspannungspolitik.

Das militärische Potential des Warschauer Paktes als Kontrahent der NATO ist heute bedeutend größer, als seine Verteidigung es erfordern würde. Denn parallel zu den laufenden Abrüstungsverhandlungen während der letzten Jahre rüstete der Ostblock geradezu hektisch auf. Der vor 20 Jahren gegründete Warschauer Pakt, kein Bündnis zwischen souveränen Staaten, sondern Moskauer Herrschaftsinstrument über Satellitenregierungen, konsolidierte den sowjetischen Besitzstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich aber begründete er das offensive Ausweiten des kommunistischen Einflusses nach dem Westen.

Nach der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) in Helsinki soll nach sowjetischer Lesart nun den Europäern eine Art von Ersatzfriedensvertrag übergestülpt werden, der 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dessen Ergebnisse endgültig festschriebe. Vor allem Breschnjew fiebert schnell sichtbaren KSZE-Erfolgen entgegen, die die Genialität seiner „Entspannungs“-Thesen bestätigen und damit ihn selbst vor dem Moskauer Politbüro stärken sollen. Deshalb möchte der sowjetische KP-Chef die Konferenz in Helsinki auch möglichst mit einem Gipfeltreffen beenden. Indes deuten westliche Statements darauf hin, daß die zunächst für Ende Juni anberaumte Schlußkonferenz nicht unbedingt auf höherem als auf Außenministerniveau stattfinden dürfte.

Die deutsche Bundesrepublik beginnt offenbar die Gefahr zu begreifen, die in den letzten Jahren ein ständig gesunkener Wille der westeuropäischen Völker heraufbeschworen hat, sich gegen den wirtschaftlichen, geistigen und militärischen Aufmarsch des Sozialismus ausreichend zu wappnen. Man weiß endlich, daß die Lage nicht mehr viel Zeit für eine Wende läßt. Doch um das europäische Ruder allein herumzuwerfen, dazu ist Bonn zu schwach.

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