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Hintergründe der Pathographie
Bemerkungen zu einer neuen Literaturgattung von RICHARD KO VACEVIC
Bemerkungen zu einer neuen Literaturgattung von RICHARD KO VACEVIC
Wir haben es heute mit einer erst in den letzten Jahrzehnten entstandenen und trotzdem schon recht fruchtbaren Literaturgattung zu tun, die es sich zur eindeutigen Aufgabe gemacht hat, uns über das Leben längst verstorbener Künstler aufzuklären, und zwar nicht in gewohnter, althergebrachter biographischer Form, sondern von einer neuen, ganz bestimmten Warte aus; sie, nämlich diese Literaturgattung, beschäftigt sich vorwiegend, ja eigentlich ausschließlich mit der Pathologie berühmter Persönlichkeiten.
Wir erfahren da, wenn auch zum hundertsten Mal, noch einmal alle Details über Nietzsches syphilitische Erkrankung - und, in diesem Zusammenhang, die frohe Botschaft, daß es neuesten Forschungen auf diesem Gebiet gelungen ist, auch bei Schubert, wenn auch verspätet, für diese Krankheit typische Symptome festzustellen - wir werden noch einmal mit Gerhard Hauptmanns Vorliebe für französischen Sekt konfrontiert und ebenso ausführlich über Trakls Schwesternliebe, Heines folgenschwere Ausschweifungen und Beethovens Verdauungsbeschwerden informiert, die ihn jedes Steinobst und alle Arten von Hülsenfrüchten meiden ließen.
Nun würde es wohl niemandem einfallen, ähnliche Betrachtungen auch über Vertreter diverser anderer Berufe anzustellen; niemand hat ein überschwengliches Interesse daran, ob der wegen eines Wasserrohrbruches herbeigerufene Installateur zufällig an chronischen Magengeschwüren und infolgedessen an regelmäßig wiederkehrenden Depressionen leidet, - ob der Magistratsbeamte, bei dem man um Stempelmarken vorzusprechen gezwungen
ist, in der prägenitalen Phase seiner seelischen Entwicklung steckengeblieben ist und sich aus diesem Grund ausschließlich zu reifen Frauen hingezogen fühlt, worunter wieder seine Ehe leidet -, oder ob der Chirurg, der infolge seiner Diensteinteilung dazu verpflichtet ist, einem den entzündeten Blinddarm zu entfernen, wegen einer übergangenen Erkältung, die er sich während seiner Studentenzeit zugezogen hat, bei jedem Wintereinbruch von einem äußerst unangenehmen Blasenkatarrh geplagt wird.
Aber natürlich gibt es da gewisse Unterschiede, die ein so intensives Wühlen im Intimbereich bis zu einem gewissen Grad rechtfertigen mögen. Künstler - und hier besonders die Verstorbenen - erregen nun einmal unser Interesse in höherem Maße als Menschen, mit denen wir Tag für Tag aus diesem oder jenem Anlaß Zusammenkommen. Wenn wir also nicht gerade den feuchten Fleck in der Mauer entdecken oder die ersten Schmerzen im Unterleib rechts verspüren, neigen wir zweifellos dazu, der Behebung eines Wasserrohrbruchs und selbst der Entfernung eines Blinddarms weniger kulturelle Bedeutung beizumessen als der vielschichtigen Komposition einer Sinfonie.
Daher ist auch gegen Künstlerbiographien nicht das geringste einzuwenden, ja sie haben, wie wir wissen, zu allen Zeiten beim lesenden Publikum un- gemein Anklang gefunden. Und daß solche Lebensbeschreibungen nicht nur dazu da sind, ihre Figuren zu verherrlichen und nach der rosaroten Seite hin zu entstellen, sondern, nebst der Lieferung von Tatsachen, auch die Aufgabe der kritischen Analyse haben, hat sich
spätestens seit Suetons „Cäsarenbilder" herumgesprochen.
Aber was bei den Vertretern der eingangs erwähnten Literaturgattung - der wir nun endlich, der Umschreibung überdrüssig, einen ihr halbwegs adäquaten Namen geben wollen, zum Beispiel „Pathographie“, weil in ihren Äußerungen das Pathologische mit dem Biographischen eine so deutliche Fusion eingegangen ist - auffällt, ist die Tatsache, daß sie ein sehr beschränktes, eingeengtes Bild liefern von dem, den sie beschreiben, und sich vielmehr mit seinen psychischen und physischen Mängeln beschäftigen.
Wenn, um die Anzahl der Beispiele einzuschränken, Herr Beethoven unter Verstopfung geinten hat, und Herr X., der über Herrn Beethoven schreibt, an demselben Übel leidet - das ja auch nicht besonders selten ist -, dann, so behauptet Herr X., ist Herr Beethoven ein Mensch wie du und ich gewesen und somit der ihm entgegengebrachten Bewunderung nicht wert. Das und nichts anderes will Herr X. mit seinen Untersuchungen über Beethoven ausdrücken.
Dem ist aber nicht so. Was Bewunderung erregt, ist ja nicht Beethovens Verdauungsapparat, sondern seine Kompositionen. Und wenn Herr X. meint, mit dem Aufzeigen der Fehler der von ihm interpretierten Figur die letztere auf sein eigenes Niveau heruntergeholt zu haben, dann irrt er; denn gemeinsam ist ihnen höchstens die Stuhlverstopfung, auf seiten des anderen aber bleibt immer noch ein Plus von neun Sinfonien, fünf Klavierkonzerten, einem Violinkonzert, einer Oper, zwei Messen, zweiunddreißig Klaviersonaten, sechzehn Streichquartetten.
Und das sind nur die Hauptwerke.
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