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Hirngespinste

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Wächst sie nun zusammen unsere Welt, zur einen Welt - oder wirken die Nationalismen als Dynamit gegen die Einheit? Funktioniert die Geschichte wirklich wie ein physikalischer Prozeß? Der Kommunismus stirbt ab, und in das ideologi- sche Vakuum dringt der Natio- nalismus ein...

Manche Phänomene dieses Umbruchs stimmen tatsächlich bedenklich, überschwappende Emotionen wecken Schauder der Erinnerung. Andererseits ist nicht jede Begeisterung über wiedergewonnene Eigenstaat- lichkeit gleich Nationalismus - auch nicht jedes Selbstbewußt- sein, das nun in Staaten des einstigen Ostblocks wieder of- fen geäußert werden darf. Hat sich die Lebensfähigkeit der alten Hirngespinste verringert? Diese Frage stellt sich der pol- nische Schriftsteller und Sena- tor Andrzej Szczypiorski in seinem neuen Buch „Notizen zum Stand der Dinge". Da rechnet ein Pole mit polnischen Legenden und Mythen ab, weil erden „verlockenden, aber von Grund auf teuflischen Mythos von unserer Besonderheit defi- nitiv begraben" möchte.

Szczypiorski hat nicht nur die Erfahrungen eines 66jähri- gen, sondern auch die morali- sche Autorität eines Mannes, der für seine Überzeugung ins deutsche Konzentrationslager und ins Internierungslager der polnischen Kommunisten kam. „Wir waren nicht besser als andere ", sagt der Pole: „Es gab in Polen genausoviel Mannhaf- tigkeit wie Gemeinheit, genau- soviel Treue wie Verrat... Über unser Märtyrertum reden wir viel, über unsere Schurkerei wenig, und wenn, dann im Flüsterton."

Auch in Polen werden sich Stimmen erheben, die Andrzej Szczypiorski als „Nestbe- schmutzer" verunglimpfen. Das gehört zum Ritual. So wie es bei uns und in anderen Län- dern selbstgerechte und einfäl- tige Gemüter geben wird, die bei der Lektüre solcher Sätze vor sich hinmurmeln: „Diese Polen, habe ich ja immer ge- sagt..." Einem solchen Mißver- ständnis muß sich ein Schrift- stelleraussetzen, wenn er auch für sein Volk die Folgerung aus der Erkenntnis zieht, daß die Sünde der getreue Schatten der Tugend ist.

Für sich beantwortet Szczy- piorski die Frage ganz eindeu- tig, wer ihm näher stehe: der edle Deutsche oder der polni- sche Schurke? Und er leugnet nicht, daß es edle Deutsche gibt - und auch im Zweiten Welt- krieg gegeben hat. Nie sei das Gebot, Pole unter Polen zu sein, vernünftig und redlich gewe- sen, schreibt Szczypiorski, denn es sei geboten, Mensch unter Menschen zu sein.

So trägt er zur Verringerung der Lebensfähigkeit der alten Hirngespinste bei. Und nicht nur die Polen sollten ihm dafür danken.

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