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Historische Aufgabe in Österreich

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Professor Norbert Leser, Politikwissenschaftler an der Universität Salzburg, meditiert in einem neuen Buch über seinen Weg als Katholik zum Sozialismus. Das dieser Tage im Verlag Herold erscheinende Buch wird sicher eine Diskussion auslösen. Wir bringen im folgenden Auszüge daraus sowie aus einem Vorwort von Prälat Leopold Ungar. In der übernächsten Nummer der FURCHE werden wir eine Gegenposition aus prominenter Feder publizieren.

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Professor Norbert Leser, Politikwissenschaftler an der Universität Salzburg, meditiert in einem neuen Buch über seinen Weg als Katholik zum Sozialismus. Das dieser Tage im Verlag Herold erscheinende Buch wird sicher eine Diskussion auslösen. Wir bringen im folgenden Auszüge daraus sowie aus einem Vorwort von Prälat Leopold Ungar. In der übernächsten Nummer der FURCHE werden wir eine Gegenposition aus prominenter Feder publizieren.

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Mir persönlich war schon sehr früh klar, daß Wahrheit und Irrtum im historischen Prozeß anders verteilt sind, als es die Vereinfacher auf der einen wie auf der anderen Seite des politischen Grabens, der gerade in Österreich tief ist und den ich immer wieder als ein trennendes, meine eigene Existenz durchziehendes Moment wahrnahm, annahmen und glauben machen wollten.

Ich sah mich schon sehr bald, mit den ersten Einsichten über die komplexe Problemlage, die mir zur existentiellen Gewissens- und Entscheidungsfrage wurde, außerstande, die in den großen politischen Gemeinschaften vorhandenen Pakete voll von ideologischem Rüstzeug und praktischen Forderungen zu übernehmen. Ich sah mich mit wachsenden Einblicken in zunehmendem Maße veranlaßt, die historischen Pakete aufzuschnüren, deren Inhalt einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen und dann zu einem eigenen Marschgepäck für meine ideologischen politischen Wanderungen zusammenzustellen. Ich nahm die Mühe, die mit diesem Umpacken verbunden ist, gerne auf mich, weil ich immer mehr das Gefühl bekam, auf diese Art sicherer und wetterfester durch die mir zugemessenen Zeiten und Räume schreiten zu können.

Ich war und bin der Uberzeugung, daß die linken politischen Kräfte auf Grund ihres sozialen Substrats und ihrer ideologischen Ausrichtung eher geeignet und in der Lage sind, die notwendigen Veränderungen der Gesellschaft in Richtung auf mehr Gleichheit und Gerechtigkeit vorzunehmen...

Die Tatsache, daß sich das konservative Lager auf das christliche Menschenbild und christliche Werte beruft, der Sozialismus aber nicht, ja eine antiklerikale Schlagseite besitzt, vermag diese inhaltliche Prüfung nicht zu präjudizieren, wenn der Satz des Evangeliums „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ auch eine gesellschaftliche Dimension und Relevanz haben soll...

Ich muß hinzufügen, daß ich im Christentum und in der katholischen Kirche die höchste Vollendung und vollkommenste Ausprägung der reli-

giösen Antriebe und Ansätze kennen und lieben lernte, und daß mich auch innerkirchliche Entwicklungen, die andere aus der Kirche vertrieben, an ihrer göttlichen Sendung nicht irre machten, wenn ich auch hier den Abstand zu den Möglichkeiten und Idealen, die der Kirche eigen sind und auf ihrem Weg durch die Zeit voranleuchten, schmerzlich fühle.

Die Grundfrage scheint mir aber nicht die zu sein, wie man mit den menschlichen Unvollkommenheiten der Kirche fertig wird, sondern die, ob man an ihre göttliche Stiftung glaubt, ja ob man überhaupt anerkennt, daß die Gottesfrage eine für den Menschen relevante Frage und nicht bloß eine Hypothese ist, auf die man nach den

berühmten Worten von Laplace verzichten kann, nach der inmitten moderner Wissenschaft und Fortschrittlichkeit kein Bedarf mehr besteht...

Woran die Kirche legitim interessiert ist, ja in Wahrnehmung ihres Auftrages, das Wort Gottes anzubieten und

den Menschen die Sakramente zu spenden, interessiert sein muß, ist die Erhaltung der Möglichkeit, die Menschen anzusprechen, sie mit der in ihr eingesenkten übernatürlichen Wirklichkeit vertraut zu machen. Die Kirche muß an der Erhaltung dieser Möglichkeit nicht deshalb interessiert sein, weil sie selbst etwas davon hätte, lebt sie doch selbst aus der Verheißung, daß sie die Pforten der Hölle nicht überwältigen werden, sondern weil die Menschen etwas, und zwar etwas Wesentliches, verlören, wenn sie ohne Hilfe des Wortes Gottes und ohne Stärkung durch die Sakramente ihren Gang durch die Zeit vollbringen müßten ...

Solange die katholische Kirche als Handlangerin einer politischen Partei agierte und als massive gesellschaft-

lich-politische Kraft in Erscheinung trat, war es für den einzelnen, der seine Interessen besser bei von der Kirche bekämpften Gruppen aufgehoben sah, ja diesen Gruppen vielfach selbst angehörte, schwer, das Zeitlose der göttlichen Botschaft vom Zeitgebundenen der kirchlichen Erscheinung und der mit ihr verbundenen Interessen zu trennen.

In einer solchen Situation, wie sie etwa im Österreich der Zwischen-kriegszeit bestand, verzweifelten viele Menschen an der Möglichkeit, ihrem Glauben treu zu bleiben und ihrer irdischen Wohlfahrt dienen zu können und entfernten sich in der einen oder anderen Form von der Kirche. Viele freilich verstanden es schon unter den schwierigen Bedingungen von damals, sich das ihnen Zusagende und Zuträgliche aus der jeweiligen Sphäre herauszuholen und sich weder um die politischen Erklärungen ihrer Seelenhirten noch um die antikirchlichen oder gar antireligiösen Ausfälle ihrer politischen Repräsentanten zu kümmern ...

Das am Parteitag 1978 beschlossene neue Programm der SPÖ geht in der Annäherung an die Werte von Religion und Kirche noch einen Schritt weiter als das Wiener Programm von 1958: Es verläßt den Boden wohlwollender Neutralität, der aus den Formulierungen des 58er Programms sprach, und spricht von einer „tiefen Sympathie“ für die christliche Botschaft, deren Affinität zum Wollen des Sozialismus mehr denn je erkannt und anerkannt wird, während in der Vergangenheit Gefühle der Konkurrenz, ja der Ablehnung diese Sicht der inneren Zusammengehörigkeit verstellten...

Man sollte den Prozeß des Arrangements, der zwischen Kirche und Sozialismus de facto stattgefunden hat, nicht allein unter machtpolitischen Gesichtspunkten des beiderseitigen Zurücksteckens aus Gründen der Opportunität und Durchsetzbarkeit sehen, sondern auch als Ergebnis eines Anschauungsunterrichtes verstehen, der den Streitparteien von einst von der Geschichte vermittelt wurde und

der seine Wirkung nicht völlig verfehlt hat, wenn wir auch weit entfernt davon sind, das Maximum an Belehrung und Fortschritt aus dieser Entwicklung herausgeholt zu haben...

In dem Maße, in dem die alten Frontstellungen begradigt und überwunden werden, hält eine Gefahr Einzug, die schneller anzuwachsen scheint als die eröffneten Möglichkeiten positiver Art genutzt werden. Es ist die Gefahr des ideellen Substanzverlustes, des ethischen Materialismus und der Gleichgültigkeit gegenüber allen existentiellen Problemen...

Das Haupthindernis eines echten Fortschrittes im religiösen wie im gesellschaftspolitischen Bereich ist das heute schier überwältigende Konsumdenken, die Haltung, die das Da-

sein als Selbstverständlichkeit und Grundlage von Ansprüchen und nicht als Gnade und als Einladung zü einer Selbstverwirklichung versteht, die die Bereitschaft zur Anstrengung und zum Opfer einschließen muß. Die Verwandlung von Gnadenerweisen in Rechtsansprüche, von Forderungen in verankerte Normen, ist ein nicht zu unterschätzender historischer Fortschritt, den sich vor allem der Sozialismus als Erfolg seines Kampfes gutschreiben darf, wenn auch andere soziale und geistige Mächte, wie die christliche'Sozialreform, an ihm beteiligt waren.

Aber die durch ihn vermittelte Wohltat verwandelt sich in eine Plage, wenn sie nicht von dem Bewußtsein begleitet und kompensiert wird, daß das durch diesen Fortschritt auf ein höheres Niveau gehobene Dasein selbst nicht ein bloßes Ausgangsterrain für neue Ansprüche und Möglichkeiten des Genusses, sondern ein Feld der Bewährung ist, das ohne sorgfältige Bearbeitung und einschneidende Maßnahmen im persönlichen Bereich, zu denen auch Verzichte und Opfer gehören, nicht bestellt werden kann, sondern verfällt oder brachliegt...

Christentum und Sozialismus stoßen hier auf ein Problem, das für sie nicht bloß ein Gegenstand von Reflexionen und Feiertagsbetrachtungen sein darf, sondern zu einer Hauptfrage avancieren muß, wenn nicht beide von Entwicklungen überrollt werden wollen, durch die beide als abgetane Möglichkeiten und bloße Dekorationen einer total veränderten Szene zurückgelassen werden...

Es liegt auf der Hand, daß der österreichische Katholizismus und der österreichische Sozialismus als die Ideen, die die Gesellschaft und die Menschen dieses Landes am nachhaltigsten geprägt haben, in besonderem Maße berufen sind, diese schwere historische Aufgabe, an deren Bewältigung dereinst vielleicht beide gemessen und gerichtet werden, zu erfüllen.

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