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Historisches Kemland Österreichs

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Wann immer wieder von Niederösterreich als dem Kemland des Staates gesprochen und geschrieben wird, mag dies vielen als billiges Schlagwort erscheinen. Für den Historiker ist es keines, ist es vielmehr eine durch die tausendjährige Geschichte des Landes zu beweisende Realität. Dies beginnt schon beim Namen: „Ostarrichi”, als ein gegen den Osten hin liegender Herrschaftsbereich zu deuten, wurde das Alpenvorland östlich der Enns erstmals im Jahre 996 genannt. Damals war dieser Name im Volksihund durchaus geläufig, „vulgariter dicitur” heißt es in der Urkunde Kaiser Ottos III. für das Hochstift Freising. Der Name wurde bald darauf auf die Mark und das Herzogtum der Babenberger bezogen, gab dann sogar dem mächtigen Herrschergeschlecht der Habsburger zur Zeit seiner größten Machtfülle als „Haus Österreich — casa d’ Austria” den international gebräuchlichen Namen. Später wurde er auf das im Jahre 1804 gegründete Kaisertum und nach 1918 auf die Erste Republik übertragen. Als man Österreich als Staat auslöschte, mußte das Land auch auf seinen historischen Namen verzichten und sollte als „Niederdonau” weiterleben.

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Wann immer wieder von Niederösterreich als dem Kemland des Staates gesprochen und geschrieben wird, mag dies vielen als billiges Schlagwort erscheinen. Für den Historiker ist es keines, ist es vielmehr eine durch die tausendjährige Geschichte des Landes zu beweisende Realität. Dies beginnt schon beim Namen: „Ostarrichi”, als ein gegen den Osten hin liegender Herrschaftsbereich zu deuten, wurde das Alpenvorland östlich der Enns erstmals im Jahre 996 genannt. Damals war dieser Name im Volksihund durchaus geläufig, „vulgariter dicitur” heißt es in der Urkunde Kaiser Ottos III. für das Hochstift Freising. Der Name wurde bald darauf auf die Mark und das Herzogtum der Babenberger bezogen, gab dann sogar dem mächtigen Herrschergeschlecht der Habsburger zur Zeit seiner größten Machtfülle als „Haus Österreich — casa d’ Austria” den international gebräuchlichen Namen. Später wurde er auf das im Jahre 1804 gegründete Kaisertum und nach 1918 auf die Erste Republik übertragen. Als man Österreich als Staat auslöschte, mußte das Land auch auf seinen historischen Namen verzichten und sollte als „Niederdonau” weiterleben.

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Niederösterreichs führende Rolle wurde von den anderen Ländern schon im 15. und 16. Jahrhundert anerkannt Im Titel der Herrscher stand der „Erzherzog” von Österreich, wie sich die Landesfürsten seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts nannten, vor dem Herzog der Steiermark oder Kärntens oder dem „gefürsteten Grafen” von Tirol. In der Renaissancezeit wurden ihm allerdings die Königswürde von Böhmen und Ungarn sowie der „Infans Hispaniae” vorgereiht, wie man auf dem Ferdinandeischen Burgtor in Wien lesen kann. Bei den „deutschen Erbländern” hingegen war der Vorrang unbestritten, wenn die Stände sich zu gemeinsamen Beratungen zusammenfanden, gingen die Niederösterreicher als erste voran.

Seit der Errichtung der Republik gibt es derartige Ränge nicht mehr, bei der Gründung des neuen Staates war aber wieder Niederösterreich führend. In seinem Landhaus in der Wiener Herrengasse fanden sich am 21. Oktober 1918 die Vertreter der deutschen Sprachgebiete der erlöschenden Monarchie ein, um die provisorische Nationalversammlung des selbständigen deutsch-österreichischen Staates zu konstituieren und einen neuen Anfang zu setzen. Auch bei der neuerlichen Gründung der Republik am 27. April 1945 spielte Niederösterreich wieder seine Rolle, bestand doch der Großteil des Territoriums, über das die neue Regierung zumindest theoretisch zu verfügen hatte, aus dem östlichen Niederösterreich und war ein erheblicher Teil der führenden Politiker der ersten Stunde Niederösterreicher. Die endgültige Gestaltung des Staates vollzog sich im September 1945 bei jenen Länderkonferenzen, die wiederum im niederösterreichischen Landhaussaal abgehalten wurden.

Niederösterreichs geschichtliche Rolle ist nicht zuletzt durch die Lage beiderseits der Donau begründet Seit dieser Strom nicht mehr Grenze, sondern Rückgrat und zentrale Achse von Herrschaftsgebilden war - dies geschah am Ausgang der Antike - wurde immer wieder versucht, die Landschaften beiderseits des Stromes in ei-

nen Staat einzubeziehen. Völlig gelang dies erstmals während der Regierungsperiode der Babenberger vom 10. bis zum 13. Jahrhundert. Das damals allmählich gewachsene Herzogtum ist noch immer weitgehend mit dem heutigen Bundesland identisch. Wer allerdings Niederösterreichs historische Bedeutung erklären oder verstehen will, muß immer das „ungeteilte” historische Land sehen, also Wiens Rolle mit einschließen.

Denn aus den vielfältigen Funktionen dieser seit dem 13. Jahrhundert als Großstadt geltenden Metropole erwächst zum guten Teil Niederösterreichs führende Rolle, aber auch das Schicksal des Landes. Erstmals wurde dies vor 700 Jahren deutlich, als nach dem Sieg Rudolfs von Habsburg über den Böhmenkönig Premysl Ottokar II. im Jahre 1278 auf dem Marchfeld dessen Versuch, ein sich von den Sudeten bis zur Adria erstreckendes Reich zu schaffen, zerschlagen wurde. Die künftige Einigung der österreichischen Länder und später des ganzen Donauraumes unter den Habsburgern seit dem 14. Jahrhundert hatte die Belehnung der Söhne König Rudolfs mit den Herzogtümern Österreich und Steiermark im Jahre 1282 als Grundlage. Als erstmals für kurze Zeit 1438 und dann neuerlich 1526 die Habsburger auch die Kronen der ungarischen und böhmischen Länder gewinnen konnten, war Niederösterreich zum zentralen Land des gesamten mittleren Donauraumes geworden.

Das bedeutete aber in der Folgezeit, daß sich alle Bedrohungen des Gesamtreiches gegen dieses Zentrum richteten und hier ihre Kulmination fanden, sich alle Äußerungen von Siegen und Glorie zum Höhepunkt steigerten, politische Stürme wie die Revolution des Jahres 1848 stellvertretend für die anderen Länder durchgezogen und neue politische Ideen auch für diese geboren und entfaltet wurden. Als die Türken 1529, 1532 und 1683 die Habsburger stürzen wollten, richtete sich die Stoßkraft ihrer Heere gegen Wien. Ähnlich handelten Bayern und Franzosen 1741, Napoleon 1797, 1800, 1805 und 1809,die Preußen 1866. Letzthin war auch der Kampf um

Wien und Niederösterreich eine der letzten großen Operationen am Ende des Zweiten Weltkrieges in Mitteleuropa.

Die zentrale Rolle des Landes führte aber auch zur Anziehung starker Kräfte. Seit dem Spätmittelalter strebten führende Adelsgeschlechter des habsburgischen Herrschaftsbereiches nach der Mitgliedschaft im niederösterreichischen Herrenstand, ob es nun die Steirer und Kärntner der Periode Friedrichs III., Oberösterreicher während der Reformation, Italiener und Spanier im Zuge der Gegenreformation, Böhmen und Ungarn seit der Barockzeit waren. In der Nähe des Kaiserhofes erbaut sie ihre Paläste, im Lande erwarben sie jene Güter, die sie zu „Landleuten” machten.

Diese Anziehungskraft wiederholte sich bei Handwerkern und Künstlern seit der Renaissance, wo vorerst Italiener vorherrschten, während im Barockzeitalter die Schwaben und anderen Oberdeutschen immer stärker in den Vordergrund traten. Diese Anziehungskraft erstreckte sich in zunehmendem Maße auch auf Beamte, Komponisten, Wissenschaftler und während der ersten Industrialisierungsphase auch auf Techniker und Erfinder. Die Unternehmertätigkeit zugewanderter Persönlichkeiten hat Niederösterreich im 19. Jahrhundert geholfen, zum führenden Industrie- und Wirtschaftsland des Staates zu werden.

Diesen folgten alsbald Fachkräfte und Arbeiter aller Sparten, die sich vom Wachstum des Zentralraumes Beschäftigung, wirtschaftlichen Aufstieg und eine neue Heimat erwarteten.

Im niederösterreichischen Raum fanden auch die Triumpfe des Herrscherhauses in Bauwerken sichtbaren Ausdruck. Die barocken Klosterbauten von Melk oder Göttweig sind ebenso Zeugnisse des Sieges der katholischen Kirche in der Gegenreformation wie die Barockschlösser Ausdruck des gestiegenen Selbstbewußtseins der Führungsschicht einer Großmacht wurden.

Verständlicherweise erfolgte auch eine entsprechende Ausstrahlung des niederösterreichischen Raumes auf die anderen Länder, etwa in Musikkultur und Theater, in Bank- und Geldwesen oder auch bei der Gründung und Ausbreitung neuer politischer Parteien oder gesellschaftlicher Strömungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.

So vollzog sich, aus vielerlei Quellen genährt, im Laufe mehrerer Jahrhunderte rund um die Millionenstadt Wien der Aufbau eines Zentralraumes, der nahm und in reichem Maße auch gab, und der Niederösterreich hieß.

Dann hat sich nach 1918 die Rolle des Landes wesentlich verändert. Es war zum Grenzland geworden, beherbergte aber doch noch bis zur Teilung in zwei Bundesländer mehr als die Hälfte der Bevölkerung der neuen Republik Österreich. Lange Zeit standen die geschichtlichen Schicksale und Ereignisse unter dem Eindruck des Abbaues eines Zentralraumes und seine Umwandlung in ein Grenzland.

Die Zerreißung der wirtschaftlichen Bande mit den böhmischen, polnischen und ungarischen Ländern nach 1918 und insbesondere nach 1945, die Bedrohung des Industriepotentiales und damit des wirtschaftlichen Fundamentes durch die Auszehrung nach dem Ersten Weltkrieg und die Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre, die Zerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges, die Demontagen und langjährige Ausschließung der sogenannten USIA-Betriebe von der modernen Technologie bedrohten Niederösterreichs Wirtschaftskraft. Schließlich führte auch die grundlegende Umstellung der Landwirtschaft zur Abwanderung vieler Menschen und zur Reduzierung des Gewichtes des einstigen Kernlandes.

Es scheint, daß dieser historische Prozeß nun zum Abschluß gekommen ist und Niederöster- reich seine Rolle wieder besser einnehmen kann, allerdings auf die gegenwärtige politische und soziologische Umwelt bezogen, ohne Gloriole oder machtpolitische Ambitionen, hingegen von seiner kulturhistorischen Bedeutung wesentlich unterstützt.

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