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„Hoch die Solidarität!" Aber mit wem?

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1. Mai in Wien: Ein Traditionsfest der SPÖ, eine „Heerschau" ihrer politischen Führung, ein Hochhalten alter Traditionen. Und alter Parolen. Solidarität wird großgeschrieben. Aber mit wem wird sie 1991 eigentlich gelebt?

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1. Mai in Wien: Ein Traditionsfest der SPÖ, eine „Heerschau" ihrer politischen Führung, ein Hochhalten alter Traditionen. Und alter Parolen. Solidarität wird großgeschrieben. Aber mit wem wird sie 1991 eigentlich gelebt?

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Seit nunmehr 102 Jahren ist der 1. Mai ein sozialistischer Feiertag. Als „Weltfeiertag der Arbeit" 1889 in Paris durch den Internationalen Sozialistenkongreß beschlossen, war er gedacht als provokante Kampfansage an den Staat und die Unternehmer. Seither ist er ein Tag der Solidarität der Arbeiterklasse, der das Selbstbewußtsein der Bewegung stärken sollte („Mit uns zieht die neue Zeit"). Dementsprechend zukunftsorientiert-kämpferisch präsentierte sich dieses Kampffest immer. Daß auch KPÖ und ÖAAB „ihre" traditionellen Feiern an diesem Tag abhielten, aber an anderen Plätzen, ist übrigens ein eigentümliches Symbol für die Gebrochenheit der Arbeiter-Solidarität. Der Tag war schließlich nicht irgendwelchen Parteifraktionen, sondern der ganzen Arbeiterklasse gewidmet.

Solidarität war also als Zusammenhalt der sozialistischen Gemeinschaft im Kampf um Emanzipation gedacht. Der Begriff stammt auch von einem Frühsozialisten, nämlich vom Schriftsteller Charles Fourier. Er ist somit noch nicht besonders alt und sollte den brüderlichen Zusammenhalt im Kampf gegen Unterdrückung und für Freiheit zum Ausdruck bringen. Allerdings war dieses Für- und Miteinander nicht etwa Monopolbesitz der Theoretiker des Sozialismus. Die Vorstellungen sind sogar viel älter, als man gemeinhin annimmt, schillern aber zwischen verschiedenen Bedeutungsinhalten und Interpretationen.

Schon der 1. Mai als „Tag der Solidarität" hat viele Abwandlungen in diesen rund 100 Jahren erfahren. Die katholische Kirche hat ihn zum Feiertag des „Hl. Joseph des Arbei-

ters" erklärt und sich damit mit dem Festanliegen der Arbeiter solidarisiert. Für die kommunistische UdSSR und ihre Bruderstaaten wiederum war dieser Tag immer machtvolle Demonstration der .Arbeiter- und Bauernstaaten" mit imposanten Truppenparaden. Adolf Hitler hatte den 1. Mai zum „nationalen Feiertag des deutschen Volkes erklärt". Damit sollte seine Parole von der „Volksgemeinschaft" im deutlichen Gegensatz zur sozialistischen Klassensolidarität stehen. Es gelang ihm aber nicht, diesen Begriff der Arbeiterpartei wegzunehmen.

„Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu entwickeln, das ist die Aufgabe des Sozialismus" rief 1871 in einer Festrede Wilhelm Liebknecht aus. Müßte man sich nicht gerade jetzt wieder rückbesinnen auf dieses Hauptanliegen, es neu mit Inhalten füllen? Nur - was soll heute unter Solidarität verstanden werden? Der Ausdruck scheint doch fast nur mehr ein „schönes Wort" zu sein, eine Leerformel. Ohne konkrete Inhalte, strapaziert und mißbraucht, und auch kein brauchbares Mittel der Politik.

Braucht Solidarität Feindbilder?

Psychologen betonen, daß Solidarität, also ein Füreinander einstehen, am besten gegen einen gemeinsamen Feind funktioniert. Erst dann gegenüber einer gemeinsamen Not. An dritter Stelle rangieren die gemeinsamen Interessen. Am schwächsten wirksam wird Solidarität, wenn sie auf gemeinsamen Ideen und Werten basiert.

Daher ist es auch verständlich und naheliegend, daß politisch Solidarität meist „gegen" etwas beschworen wird. Nur - ist das noch vertretbar, angesichts der Verflechtung von Interessen, der gegenseitigen Abhängigkeit, der Schicksalsgemeinschaft der Menschen?

Selbst Michail Gorbatschow hat „Neues Denken" gefordert, das die menschheitliche Solidarität über die Klassensolidarität stellt.

„Der Vorrang der allgemeinmenschlichen Werte vor Klassen- oder Lagerinteressen" soll in Zukunft gelten. Dieselbe Linie verfechten ja auch seit Generationen die Päpste. Der jetzige zum Beispiel in seinem Leitwort zum Weltfriedenstag 1987 „Entwicklung und Solidarität - zwei Schlüssel zum Frieden". Überhaupt beruht die Katholische Soziallehre - insbesondere mit und seit dem päpstlichen Rundschreiben „Rerum novarum" (15. Mai 1891), dessen lOOjähriges Jubiläum derzeit in kirchlichen Kreisen begangen wird - auf der Idee der Solidarisierung der Klassen im Zeichen des gerechten Ausgleichs und der Versöhnung.

Kann man aber mit jedem und mit allen solidarisch sein? Vielleicht. Wenn man in einem religiösen Sinne gläubig ist: Christen kennen das Wort von der Brüderlichkeit aller Menschen. Beim Gleichnis von der Nächstenliebe vergessen aber gerade sie oft, daß der Nächste ja in Wirklichkeit der „ganz andere" ist: Der „Samariter" nämlich, also der Volksfeind des gläubigen Juden.

Aber es ist sicherlich zu fundamentalistisch, Politik nach neutestamentlichen Gleichnissen machen zu wollen. Solidarität muß, soll sie wirken, etwas Handfestes und Umsetzbares bedeuten. Sie muß so konkretisiert werden, daß klar wird, wer oder was gemeint ist. Zum Beispiel könnte gemeint sein: Solidarität bedeutet den Einsatz für die Menschenrechte eines „jeden anderen". Ganz konkret auch: des Kurden im Irak, des Asylwerbers bei uns, des peruanischen Cholerakranken in Peru...

Solidarität muß heutzutage jedenfalls im Sinne von Füreinander und nicht von Ab- und Ausgrenzung (eines „Gegners") gesehen werden.

Gerade Sozialisten, die sich in Sozialdemokraten umbenennen wollen, und die den Weg von der Klassen- zur Volkspartei bejahen, sollten sich dazu entschließen. Die Anliegen der Sozialdemokratie würden damit eine neue moralische Qualität gewinnen.

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