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„Hören Sie mir doch zu”

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„Hören Sie mir doch zu, hören Sie mir doch bitte zu, lieber Herr, Sie wissen ja nicht, was das für mich bedeutet.

Sehen Sie, ich führe ein bescheidenes Leben. Ich habe keine Ansprüche. Meine Rente ist nicht hoch, aber ich kann davon leben, wenn der Winter nicht zu lang und zu kalt ist.

Seit meine Frau tot ist, ist es schwer für mich. Aber was soll ich machen? Ich lebe weiter.

Es ist gut, daß ich auf sie gehört habe. Daß wir uns das Häuschen gebaut haben. Mit unseren Händen. Buchstäblich mit unseren Händen. Stein für Stein.

Auch der Garten. Es sind nur achtzehn Quadratmeter. Ich baue Kohl und Kartoffeln. Obwohl, im Winter, die Hasen, das ist keine Kleinigkeit, sage ich Ihnen.

Wenn sie Hunger haben, da nützt kein Maschendraht.

Es ist direkt am Wald.

Erst wollte ich nicht. Es ist ganz einsam dort. Aber der Grund war so billig. Rein geschenkt. Da habe ich nachgegeben.

Seit meine Frau tot ist, ist es noch einsamer. Da fängt man an, mit sich selbst zu reden. Das ist natürlich kein Trost. Es kommt nichts zurück. Man gibt sich nicht die richtige Antwort. Die richtige Antwort gibt immer der andere, auch wenn sie falsch ist. Man dreht sich im Kreis und wird schwindlig.

Der Bäcker, der Müchmann—ja da spricht man ein wenig.

Zum Fleischer komme ich seiten. Einen Fernseher habe ich nicht. Wo denken Sie hin?

Einmal in der Woche fahre ich in die Stadt. Das muß ich. Menschen sehen, Stimmen hören. Ich fuhr jeden Mittwoch. Das war mein Sonntag. Dann ist Markt in der Stadt.

Ich fuhr immer zu einer bestimmten Zeit, denn da traf ich meinen Freund. Er ist Omnibusschaffner. Wenn er lacht, muß man auch lachen. Und was er erzählt zwischen den einzelnen Stationen: Geschichten, sage ich Ihnen, jede Woche neue. Er kommt ja viel herum. Er fährt nämlich den Omnibus nicht, sondern sitzt an der Kasse, nimmt Geld ein, wechselt, locht die Fahrscheine und ruft die Stationen aus. Wenn er selbst fahren würde, könnte er ja nichts erzählen. Das ist streng verboten.

Er hatte meinen Platz neben sich immer reserviert. Er wußte genau, wann ich in die Stadt fuhr. Dann haben wir miteinander gesprochen, fast eine Stunde lang. Das war mein Sonntag.

Ich muß meinen Mantel anziehen. Es wird kalt. Die Bank steht auch schon im Schatten. Die Tage werden so schnell kürzer.

Am letzten Mittwoch fuhr ich wieder in die Stadt. Als ich in den Omnibus steige, ist mein Platz besetzt, mein Freund nicht da. Ich denke, ich träume. Ich sehe mich um, aber die Fahrgäste tun so, als wäre alles in Ordnung. Wo sonst mein Freund saß, hängt ein Automat. Ich sehe zu, wie die Leute den Automaten bedienen, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Der Automat kann alles: Geld schlucken, Geld wechseln, Fahrscheine ausspucken. Ich habe es auch probiert. Es geht ganz leicht.

Heute ist wieder Mittwoch. Ich bin nicht in die Stadt gefahren. Ich sitze hier und rede. Müssen Sie denn schon gehen? Bitte bleiben Sie doch noch einen Augenblick, hören Sie doch zu, hören Sie mir doch bitte zu, lieber Herr, Sie wissen ja nicht, was das für mich bedeutet.”

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