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Hörspiel heute

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Das Hörspiel, dessen klassische Anfänge in die dreißiger Jahre fallen, hat nach dem zweiten Weltkrieg besonders in Deutschland als eigene Literaturgattung besondere Bedeutung gewonnen und in den fünfziger Jahren eine Blütezeit erlebt, die bedeutende Schriftsteller der Gegenwart an das Medium Bundfunk banden. Nach drei Jahrzehnten, da Alfred Döblin die Bedeutung der „gesprochenen" Sprache im Rundfunk für den Schriftsteller erkannt und auf sie hingewiesen hatte, zieren Namen wie Günther Eich, Ilse Aichinger, Dylan Thomas, Samuel Beckett, Franz Theodor Csokor, Richard Billinger, Herbert Eisenreich, Eugen lonesco, Gerhard Fritsch, Franz Hiesel, Heinrich Boll, Alfred Andersch, Walter Jens, Zbiginiew Herbert und viele, viele andere die „Hörspielpläne" der Rundfunkanstalten. Inzwischen hat der Leiter der Abteilung Hörspiel des ehemals Nordwestdeutschen Rundfunks, Heinz Schwitzke, seine Geschichte und Dramaturgie des Hörspiels veröffentlicht (1963) und der in Berlin wirkende Hochschullehrer Friedrich Kniiii aus Graz seine völlig konträre Hörspieltheorie, die von der „musique concrete" und elektronischen Geräuscheffekten ausgeht und das „totale Schauspiel" anvisiert, publiziert (1961), mit der sich Schwitzke recht eingehend auseinandergesetzt hat.

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Das Hörspiel, dessen klassische Anfänge in die dreißiger Jahre fallen, hat nach dem zweiten Weltkrieg besonders in Deutschland als eigene Literaturgattung besondere Bedeutung gewonnen und in den fünfziger Jahren eine Blütezeit erlebt, die bedeutende Schriftsteller der Gegenwart an das Medium Bundfunk banden. Nach drei Jahrzehnten, da Alfred Döblin die Bedeutung der „gesprochenen" Sprache im Rundfunk für den Schriftsteller erkannt und auf sie hingewiesen hatte, zieren Namen wie Günther Eich, Ilse Aichinger, Dylan Thomas, Samuel Beckett, Franz Theodor Csokor, Richard Billinger, Herbert Eisenreich, Eugen lonesco, Gerhard Fritsch, Franz Hiesel, Heinrich Boll, Alfred Andersch, Walter Jens, Zbiginiew Herbert und viele, viele andere die „Hörspielpläne" der Rundfunkanstalten. Inzwischen hat der Leiter der Abteilung Hörspiel des ehemals Nordwestdeutschen Rundfunks, Heinz Schwitzke, seine Geschichte und Dramaturgie des Hörspiels veröffentlicht (1963) und der in Berlin wirkende Hochschullehrer Friedrich Kniiii aus Graz seine völlig konträre Hörspieltheorie, die von der „musique concrete" und elektronischen Geräuscheffekten ausgeht und das „totale Schauspiel" anvisiert, publiziert (1961), mit der sich Schwitzke recht eingehend auseinandergesetzt hat.

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Mit der Machtergreifung des Femsehens begannen allerdings die Hörerzahlen, die in die Millionen gingen, zu schwinden. Schwitzke sah darin keinen Nachteil für das Hörspiel, sondern geradezu seine Erlösung zur „reinen Form" der „inneren Bühne" des Ohrs. Außerdem muß dazu noch bemerkt werden, daß trotz der Abwanderung vieler Hörer zum Bildschirm das Hörspiel — auch das experimentelle und hohe Anforderungen stellende — noch immer weit größere Hörerzahlen bringen wird als je ein Riesentheater zu fassen vermag…

Während nun Schwitzke noch unter Berufung auf die Eindimensio-^ Üalität des unräimilichen Hörspiels* und auf Robert Musils Tage-" buchaufzeichnung, in der das „unzeitliche Drama" gefordert wird (Gesammelte Werke, Bd. II, S. 200), darin die wichtigste Definition des „Hörspiels" sieht, ist unter dem Einfluß der Poetik des „nouveau roman", der Erkenntnisse der Informationstheorie und des Strukturalismus seit einigen Jahren bei den jüngsten Autoren des Hörspiels eine merkliche Distanznerung zur bisherigen Theorie und Praxis zu beobachten. Dieser Prozeß hat etwa im Jahr 1966 mit dem sogenannten „experimentellen Hörspiel", das auch die neuen Möglichkeiten der Stereophonie, Elektronik usw. zu nützen weiß, begonnen. Wir wundern uns nicht, daß wir unter diesen „Experimentatoren" so bekannten Namen wie Gerhard Rühm, Peter Handke, Emst Jandl und Friederike Mayröcker, Klaus Hofler vom Grazer Forum, und der Kärntner Gert F. Jonke antreffen. Über die ersten Ergebnisse dieses sogenannten „neuen Hörspiels", das ein völlig anderes und vor allem kritisches Verhältnis zu seinem Mediiim gewinnen und auch hier das Publikum vom passiven „kulinarischen" zum kritischen, mitspielenden und mitschöpferischen Akt hinführen möchte, berichtet der 1969 bei Siihrkamp erschienene Band „Neues Hörspiel", den Klaus Schöning herausgegeben hat, wo wir in den Anmerkungen des Herausgebers lesen:

„Das Neue Hörspiel ist in seiner Tendenz antiirrationalistisch, sprachkritisch und spielerisch. Das Neue Hörspiel liefert keine wie auch immer geartete metaphysische Weltinterpretation und läßt den Hörer nicht mehr teilhaben an erdichteten Innenräumen… Das Neue Hörspiel tendiert dahin, ohne die produktive Imaginationsfähigkeit aufheben zu wollen oder zu können, den Prozeß dieser Imagination nicht unmerklich auszulösen, sondern bewußt zu machen, das heißt die zur Komposition verfügbaren gleichwertigen Materialien wesentlich zu machen, sie voneinanderander abzuheben."

Wenn von der Bewußtmachung des Mediums „als Medium" die Rede ist, dann begreift man, daß Höi\q)ielautoren das Bedürfnis haben, sich über die alte und die neue Problematik dieser Gattxmg klar zu werden. Dies war der Grundgedanke der ersten Hörspieltagung, die der bekannte Hörspiediautor Jan Rys („Grenzgänger", „53 Schritte", „Die Toten dürfen nicht sterben", „Interview mit einer bedeutenden Persönlichkeit" usw.) vor kurzem auf seiner Mühle in Unterrabnitz im Bur-genland einberief, denn er hatte den Gedanken des „work shop" von den von ihm initiierten Schriftstellertreffen auf der Burg Karlstein in seine burgenländische Mühle hinübergerettet.

Hör-spielautoren, an denen auch Dramaturgen und Vertreter deutscher und österreichischer Rundfunkanstalten teilnahmen, ging Jan Rys gewissermaßen „phänomenologisch" vor und führte einerseits ‘alte xmd erprobte Hörspiele von Fred v. Hoerschel-mann („Flucht vor der Freiheit"), Günther Eich („Träume"), Wystan Hugh Auden („Tal der Finsternis"), Ilse Aichinger („Besuch im Pfarrhof"), Naoya Uchimura („Marathon"), Marcel Faust („Silvester 1952 Nachtausgabe"), Uwe Friesel und Richard Hey („Mitbe- stimm- Stimmung") vor und ließ anderseits neue, entstehende und vor kurzem produzierte Hörspiele vorlesen oder vom Band laufen. Und sie sind es vor allem, die uns über den Stand der heutigen Hörspieltechnik, ihrer Tendenzen und Möglichkeiten informieren. Dieter Forte, Franz Hiesel, Otto Grünmandl, Franz Haderer, Dieter Hübsch, Zora Dimbach, die Vertete-rin Kroatiens bei diesem Treffen, Anestis Logothetis, der griechische Komponist, der gebürtige Ukrainer Eaghor G. Kostetzky, Peter Kegle-vic, Emst Jandl und Friederike

Mayröcker zeigten hier die ganze Badbreite des modernen Hörspiels.

Im Hintergrund der von der Praxis imd Theorie bestimmten Diskussionen standen natürlich die von Schwitzke, Kniiii und den jüngsten Vertretern der Gattung erarbeiteten Theorien und Erkenntnisse über das Hörspiel in all ihrer Gegensätzlichkeit. Dazu traten die dramaturgischen, technischen und formalen Erfahrungen, die man mit dem sogenannten „Neuen Hörspiel" machte. Gerade junge Autoren, die ihre Hörspielerstlinge hinter sich haben und sich als „Sprachsteller" fühlen, sind besonders an formalen und mediengerechten Fragen interessiert und weniger an Inhaltsproblemen. Die vorgeführten Beispiele von Rühm („Ophelia und die Wörter"), Grünmandl („Salzwege") und Jandl-Mayröcker („Fünf Mann Menschen") zeigten sehr deutlich die Möglichkeiten und Grenzen der Stereophonie und berichtigten damit so manche anders lautende Meinung Schwitzkes und Kniiiis. Ein besonderes Ereignis war das mit Wort-, Geräusch- und seriellen und aleatorischen Miisik-elementen geladene Hörspiel „Ana-stasis" des griechischeö Komponisten Anestis Logothetis, das aus den archaischen Schichten der Tiefenseele organisiert wurde und zeigte, wie weit der moderne, progressive Künstler mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in die Möglichkeitswelten des Ausdrucks vorgestoßen ist. Logothetis erwies sich auch als kenntnisreicher und brillanter Verteidiger seiner eigenen Kunsttheorie.

An dem politischen Hörspiel „Mitbe- stimm- Stimmung" von Friesel und Hey, das politische Reden, Interviews und programmatische Äußerungen von Politikėm, Ge werkschaftem und Arbeitern zum Thema „Mitbestimmung" durch gezielte Schnitte und verfremdende Musikeflekte zu einem Hörspiel mixte, entzündete sich die Diskussion über die Möglichkeiten und ethisch noch vertretbaren Grenzen der Manipulation fremder Texte, während sowohl an Franz Hiesels — von Qualtinger hinreißend interpretiertem — „Streckengeher" als auch an Gert F. Jonkes Hörspielbearbei-timg eines Teiles seines Romans „Glashausbesichtigung", die nun den Titel „Es gibt Erzählungen, Erzählungen und Erzählungen" trägt und die noch der Raffung unf Straffung bedarf, die Grenzproblematik zwischen „Funkerzählimg" uns „Hörspiel" erneut sichtbar wurde. Franz Haderers Hörspielerstling „In diesem Hause" bedient sich der Mittel der Montage und Collage auf geschickte Weise, und der junge Salzburger Peter Keglevič gab mit seinem absurden Hörspielerstling „Im Hochsommer, als alles bei 57 Grad im Schatten vor Hitze zitterte" eine besondere Talentprobe. Kostetzkys Hörspiel „Der Tod des Kardinals" fand nach der Lesung ungeteilten Beifall, obwohl es ein wenig in den überlieferten Spuren der „Letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus zu gehen schien, der lange vor Kostetzky den Renschen und seine erbärmliche Fassade durch „bloße Zitation" entlarvte.

In allen diesen „Werkgesprächen" zeigte sich die alte Diskrepanz von Theorie und Praxis sowie eine merkwürdige Scheu besonders der jungen

Autoren vor der Definition dessen, was sie wirklich tun. Der letzte Tag dieses Treffens war den Gesprächen zwischen den Kontrahenten „Autor" und „Rundfunkianstalt" beziehungsweise „Dramaturgie" gewidmet, in denen alle praktischen, rechtlichen und sonstigen Probleme wie Spiei-plangestaltung, Autorenhonorare usw. zur Sprache kamen.

Man muß als Österreicher bedauern und beklagen, daß die wichtigsten und interessantesten Hörspiele von Österreichern wie Gerhard Rühm, Gerhard Fritsch, Franz Hiesel, Emst Jandl und Friederike Mayröcker und manchen anderen vom österreichischen Rundfunk vor und nach seiner Reform nur selten und oft nicht werkgerecht gesendet worden sind. Dr. Rudolf Bayr, der neue Hauptabteilungsleiter für das „kulturelle Wort" hat versprochen, daß sich dies ändern wird. Sein Wort in Bachers Ohr!

Am Schlüsse seiner Hörspieltheorie bezeichnete Heinz Schwitzke das Hörspiel als „ein bedeutendes Expe-

riment, das eine Spätzeit anstellt: eng und bescheiden im Ziel, großzügig in den künstlerischen Mitteln, aber ohne außerkünstlerische Er-schleichnisse. Der Mensch wird auf das Sprechen reduziert: in seiner Fähigkeit, durch Sprache individuelle Wirklichkeit hervorzubringen, liegen alle jenen Eigenschaften, die ihn von der übrigen Kreatur unterscheiden." Dieses Sprachvertrauen Schwitzkes wird durch den Sprachzweifel der Jungen erschüttert. Uns dünkt, das eigentliche „Experhnent" mit der geschundenen Sprache, mit den oft verderblichen Möglichkeiten ihrer Manipulation, mit den mediengerechten Spielelementen hat erst vor kurzem begonnen, und wir wissen noch nicht, wie es ausgehen und ob es am Ende ein verbotenes „ex-perimentum ad hominem" gewesen sein wird. Aber eines hat die von Jan Rys vorbildlich organisierte und geleitete Tagung jedenfalls bewiesen: Trotz Bildschirm, Hörerschwund und oft negativem „Infratest": Das Hörspiel lebt!

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