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Hoffen auf den Herbst

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„Den Aufschwung wählen.“ — Mit diesem Slogan hatten vor den Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen Plakate der SPD die Wähler am Rhein aufgefordert, den Sozialdemokraten ihre Stimmen zu geben. Ein unerwartet hoher Anteil von Wählern hatte dann auch tatsächlich die SPD gewählt, aber der versprochene Aufschwung stellte sich weder in Nordrhein-Westfalen noch in einem anderen Land der Bundesrepublik Deutschland ein. Im Gegenteil. Nach den für sie einigermaßen glimpflich verlaufenen Landtagswahlen bekennt nun auch die sozialliberale Koalition, daß der wirtschaftliche Aufschwung, seit Monaten als unmittelbar bevorstehend prophezeit, auf sich warten läßt.

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„Den Aufschwung wählen.“ — Mit diesem Slogan hatten vor den Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen Plakate der SPD die Wähler am Rhein aufgefordert, den Sozialdemokraten ihre Stimmen zu geben. Ein unerwartet hoher Anteil von Wählern hatte dann auch tatsächlich die SPD gewählt, aber der versprochene Aufschwung stellte sich weder in Nordrhein-Westfalen noch in einem anderen Land der Bundesrepublik Deutschland ein. Im Gegenteil. Nach den für sie einigermaßen glimpflich verlaufenen Landtagswahlen bekennt nun auch die sozialliberale Koalition, daß der wirtschaftliche Aufschwung, seit Monaten als unmittelbar bevorstehend prophezeit, auf sich warten läßt.

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Zu solchem Bekennermut wurde die Regierung Schmidt-Genscher nicht nur bewogen, weil sie unmittelbar keine Wahlen mehr vor sich hat. Vielmehr ist die wirtschaftliche Entwicklung in der Tat so unerfreulich und nunmehr bereits für jedermann landauf landab zu erkennen, daß fortgesetzter wirtschaftspolitischer Optimismus die Regierung in die Nähe eines Theaterdirektors gerückt hätte, der dem Publikum eine baldige Fortsetzung der Aufführung verspricht, während hinten auf der Bühne schon alles in Flammen steht.

Die deutlichste Sprache sprechen vor allem die Arbeitslosenstatistiken. Entgegen allen Versprechungen und Erwartungen will die Arbeitslosenzahl nicht wesentlich von der magischen Ein-Millionen-Grenze abrücken. Minimale Verringerungen der Arbeitslosenzahl sind jahreszeitlich bedingt. Ihnen steht eine steigende Zahl von Kurzarbeitern gegenüber, die, realistisch gesehen, als kurzfristig Arbeitslose eingestuft werden müssen. Mit einer Arbeitslosenquote von 4,4 Prozent liegt die Bundesrepublik im internationalen Vergleich relativ gut, doch tröstet dies w'eder die zahlreichen Arbeitslosen noch kann es sonst zu Optimismus verhelfen.

Zu Besorgnis gibt nämlich nicht nur die absolute Zahl der Arbeitslosen Anlaß, sondern auch die unerwünschte Stabilität dieser Zahl. Denn die Arbeitslosenquote signalisiert, daß der allgemein erhoffte wirtschaftliche Aufschwung vorerst noch ausbleibt.

Die Bevölkerung erhofft ihn allgemein, da sie sich bereits zunehmend existentiell verunsichert fühlt. Die Wirtschaft muß ihn erhoffen, da die derzeitige schwache Auslastung vieler Unternehmer) an deren Substanz zu zehren beginnt; die Zahl der Konkurse und Ausgleiche ist weiter im Steigen. Die Regierung aber braucht einen wirtschaftlichen Aufschwung, will sie die Bundestagswahl im Jahre 1976 gewinnen. Bleibt nämlich der Wirtschaftsaufschwung aus, so wird nicht nur allgemein die Sympathie in der Bevölkerung schwinden, die Finanzierung des Staatshaushaltes im gewohnten und notwendigen Umfang wäre gefährdet, die SPD/FDP-Regierung müßte mit einem finanzpolitischen Offenbarungseid aufwarten, der ihr kaum Überlebenschancen ließe.

Angesichts der anhaltenden Wirtschaftsflaute ist innenpolitisch bereits der Konflikt ausgebrochen, wer denn diese Entwicklung zu verantworten hat. Dabei ist dieser Streit bisher nur dadurch gemildert worden, daß die Unionsparteien durch ihr ungelöstes Problem der Kanzlerkandidatur im Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um eine überzeugende und geschlossene Kritik des Wirtschaftsprogramms der SPD/FDP-Regierung vorzutragen.

Realistisch betrachtet, ist aber auch festzustellen, daß die Regierung kaum für das gesamte Ausmaß des momentanen Desasters verantwortlich gemacht werden kann. Immer wieder beschworene, aber doch nicht ernstgenommene Mängel der bundesdeutschen Wirtschaft wurden jetzt evident. Der hauptsächliche Mangel liegt in einer extremen Exportorientierung der bundesdeutschen Wirtschaft. Die weltweite wirtschaftliche Rezession schlägt daher voll auf die deutsche Wirtschaft zurück. Die Devisenarmut in

vielen Exportländern der Bundesrepublik infolge der gestiegenen ölpreise hat die Situation verschärft. Die Änderung des Dollarwechselkurses hat zusätzlich den Export in die USA erschwert, was vor allem VW zu spüren bekam. Aber auch die in den zurückliegenden Jahren erfolgte starke Anhebung der Einkommen in der Bundesrepublik hat sich auf die Preise der bundesdeutschen

Exportartikel nachteilig ausgewirkt. In der Frage einer Verbesserung der Exportsituation ist die Bonner Regierung jedoch weitgehend überfordert. Alles, was sie tun kann, ist, auf eine Beibehaltung liberaler Grundsätze im Welthandel zu drängen und gegen die allerorten zu beobachtenden protektionistischen Tendenzen anzukämpfen.

Schwerwiegender sind die Vorwürfe gegen die Regierung, sie habe die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu lange verharmlost oder überhaupt negiert. In der Tat wirken so manche optimistische Äußerungen in früheren Monaten über die wirtschaftliche Lage heute höchst befremdlich. Die Anfang 1974 erreichte Zahl von einer halben Million Arbeitslosen wurde als nicht sonderlich gravierend betrachtet, im Sommer vergangenen Jahres noch wurde von Wirtschaftsminister Frid-richs eine Arbeitslosenzahl von 800.000 ausgeschlossen — ein halbes Jahr später lag sie über einer Million.

Die entscheidenden Wahlen von Nordrhein-Westfalen verleiteten schließlich die Politiker der SPD und FDP dazu, möglichst lange wirtschaftlichen Optimismus zu verbreiten. Diese Taktik hat sich zwar bei den Wahlen gelohnt. Aber, wie so oft, wenn jemandem die Wahrheit zu lange verschwiegen wird, ist die Enttäuschung und Verzweiflung nachher um so größer. Nur die bevorstehende Ferienzeit rettet Schmidt und seine Mannschaft vorerst davor, härter mit der nun auch von der Regierung eingestandenen wirtschaftlichen Not konfrontiert zu werden.

Der Zweckoptimismus der Regierung hat nicht zu ihrem Überleben beigetragen. Die immer wieder beteuerte Aussicht, daß sich der neue Boom im Frühsommer einstellen werde, hat auch dazu verholfen, in der Bevölkerung für einige Zeit Beruhigung zu erzeugen. Es war auffällig, wie selbst in den Zeiten des heißesten Wahlkampfes politischer Extremismus in der Bundesrepublik trotz der Arbeitslosigkeit keinen Nährboden fand. Hier liegt ein auf-

fallender Unterschied zu der Rezession von 1966/67, als die NPD auf der Krisenwoge nach oben schwamm. Diesmal konnten die Extremisten weder links noch rechts Zulauf verzeichnen. Noch ist das Vertrauen in die demokratisch zustande gekommene Regierung und in die von ihr vertretene freiheitliche Wirtschaftsordnung groß genug, um die Wähler im demokratischen Lager zu halten. Dazu mag nicht zuletzt beigetragen haben, daß die Bundesrepublik gerade in der Krise die Stärke ihrer freiheitlich-sozialen Ordnung demonstrieren kann.

Wie heute jedermann klar wird, daß auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung in den zurückliegenden Jahren zu sehr von der Annahme einer ewigen Hochkonjunktur ausgegangen wurde, so auch auf anderen Gebieten. Vor allem in der Sozial- und Bildungspolitik werden jetzt die reform- und ausgabenfreudigen Maßnahmen und Projekte der zurückliegenden Jahre einer Revision unterzogen. Die stürmisch vorangetriebene Sozialpolitik der SPD erweist sich heute bereits als schwer finanzierbar, da die Wirtschaftsexpansion und damit der Anstieg der Gehälter ein Ende hat. .

Die Bildungspolitik ist zu einer noch stärkeren Umkehr gezwungen.

Eine solche Entwicklung kann nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, den arbeitslosen Junglehrern, dadurch böse Folgen haben, daß sie, wie andere enttäuschte Jungakademiker, für eine politische Radikalisierung anfällig werden. Auch bei weiten Teilen der Bevölkerung droht ein Staat unglaubwür-

dig zu werden, der jahrelang vom Bildungsnotstand erzählte, Reformen in der Bildung versprach und jetzt, trotz eines nach wie vor bestehenden Lehrermangels, keine weiteren Lehrer einstellt.

Hier wie auch in anderen Fällen, in denen der Staat angesichts der Wirtschaftsflaute Ansprüche zurückweisen muß, kann er nur auf seine leeren Kassen verweisen. Deren Zustand ist tatsächlich besorgniserregend. Die Verschuldung erreicht Werte um die 30 Milliarden D-Mark. Noch in diesem Jahr wird der Bund einen Nachtragshaushalt von rund acht Milliarden einbringen müssen. Finanzminister Apel schiebt die Vorbesprechungen für den Haushalt des kommenden Jahres laufend hinaus, weil die Finanzentwicklung so ungünstig ist.

Unabhängig davon,, ob die wirtschaftliche Entwicklung bald oder erst in einiger Zeit wieder aufwärts gehen wird, steht doch bereits fest, daß das politische Klima in der Bun-

desrepublik durch die Flaute nachhaltig beeinflußt wurde. Die Reformer, die Theoretiker sind ins zweite Glied getreten, und die Pragmatiker haben die Herrschaft übernommen, setzen Prioritäten und schrauben manche Reformmaßnahme zurück. Sollte ihnen Erfolg beschieden sein, so werden sie kaum so bald und so leicht wieder zur ungehemmten Reformpolitik der Hochkonjunkturzeit zurückkehren. Sollten sie aber versagen, so wäre mit einer nachhaltigen Verschärfung des innenpolitischen Klimas in der Bundesrepublik zu rechnen, weil dann die jetzt zurückgestauten Kräfte des reformerisch bis revolutionären Flügels in den Regierungsparteien wieder radikal nach vorne drängen würden und harte politische Auseinandersetzungen nicht mehr auszuschließen wären. Die bislang zu beobachtende Ruhe in der Bundesrepublik trotz der Wirtschaftsflaute kann bei Anhalten der Depression leicht in ihr Gegenteil umschlagen.

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