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Hoffnung auf eine humane Schule

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„Ich spreche von heute an von der zweiten Reform, denn ich halte die erste für so krank, krankgeprügelt und krankgemacht, daß es nicht viel Sinn hat, mit ihr allein fortzufahren.“ Das sagte der Bielefelder Pädagoge Hartmut von Heutig im Kulturzentrum der Minoriten zu Graz, das ihn zu einem Vortrag über die „Schulreform im Eck“ geladen hatte.

Mehr Arbeiterkinder auf Hochschulen? Chancengleichheit? Soziale Integration? Da hat sich wenig geändert. Entscheidend für den „Aufstieg“ sei doch die Famüie, aus der man kommt und die Dauer des Schulbesuchs: „Diese richtet sich wieder weniger nach der Leistung, sondern nach der Fähigkeit, Schule auszuhalten und so lange stillzusitzen, bis man oben herausgekommen ist“.

Leidlose Schulen?

Aber deswegen die Reformschulen verantwortlich machen? Verantwortlich für die „Leiden an der Schule“? Höchstens insofeme, als sie versprochen hatten, leidlose Schulen zu sein. „Vielleicht war das ein falsches Versprechen. Lernen ist nicht immer lustvoll, nicht so lustbesetzt, wie wir das an den kleinen Kindern beobachten. Bis sie nämlich in die Schule kommen, ist ihnen die Lust an der Schule auch schon ausgetrieben worden. Durch die empfindlichen Möbel, durch Vaters Mittagsschlaf, durch den Autoverkehr, den Lärm und was es sonst noch an lemhemmenden, lemdämpfenden Möglichkeiten gibt.“

Bielefelder Alternativen: „Wir haben es umgedreht.“ In Hentigs „Labo rschule“ - sie gibt es seit rund zehn Jahren als Konzept und seit drei Jahren auch in der Realität - sind die Lembedingungen besonders für die jüngsten Schüler optimal: nur zwölf Kinder kommen auf einen Lehrer! Dort geht es auch um das Lösen yon Lebenspröblemeh. „Wenn ein Kind nicht gelernt hat, Sich zu entfalten, wird es nicht das Lernen lernen.“ Lange bevor die Schreibtechnik losgeht, lernen die Kinder, Regeln zu machen, mit denen man lebt. Lernen, Angst abzubauen vor der Mitteilung, der Frage, vor dem Eingestehen, daß man etwas nicht verstanden hat.

„Es muß an die Stelle von Belehrung Erfahrung treten.“ Dies als Alternative zur Trostlosigkeit, zum Streß als Schulplage. „Kinder zu langweilen ist so sträflich wie sie zu prügeln, indem man sie in die Schulen lockt und behauptet, man bereite sie auf das Leben vor und dann sind das solche sterile Kästen, in denen nichts ist, nicht einmal Sauberkeit.“

Ohne Noten, ohne Strafen

In der Bielefelder Laborschule ist das „Miteinander-leben“ zum Hauptpensum geworden. Eine Schule ohne Noten, ohne Wände, ohne Strafen, ohne Unterrichtsgegenstände (es gibt dafür „Lernbereiche“), ohne starre „Klassenzüge“.

Hentig erzählt eine Episode aus einer Lateinstunde, die er bei Zwölfjährigen gegeben hat: „Da steht der Udo nach zehn Minuten auf. Er duzt mich. Das tun nicht alle in der Schule, das geht so durcheinander. Er sagt, Hartmut ich will jetzt mal. Ich weiß schon, was er will, nämlich da unten für Ruhe sorgen, bei den Fünfern. Und dann sitzt da Juliane, die kann um die Ecke gucken, und dann sagt Juliane, das sieht aber so aus, als ob die was sehr lustiges spielen. Dann frage ich die Gruppe: .Wollen wir das noch aushal- ten?’ Sie sagen ja. Weü sie ja auch manchmal so etwas machen. Nach zehn Minuten ist es nicht besser geworden. Da steht Udo auf und fragt: ,Soll ich jetzt mal?1 Dann sage ich: ,Udo, du warst doch schon das letzte Mal. Ob nicht jetzt mal Frank runtergeht, Frank will nicht. Also gehen Frank und Udo. Und dann verhandeln sie mit den Kindern da unten, ob ihr Spiel jetzt nicht mal anders gemacht werden könnte oder wo anders, oder etwa so, daß es uns nicht stört. Und nach drei Minuten kommen sie zurück und wir können Weiterarbeiten.“

Hentig verweist mit diesem Beispiel darauf, daß man in der Schule lernen muß, für seine Bedingungen verantwortlich zu sein. „Nicht ein wildgewordener Lehrer kommt und macht Schulordnung, sondern es wird etwas hergestellt, was allen das Leben erträglich macht.“

Hentig erzählt aus seinem Bielefelder Schulalltag, von den Lehrern, deren Arbeitsplätze für alle Kinder sichtbar sind. „Endlich können Kinder auch Erwachsene arbeiten sehen.“ Sie können bei Konferenzen zuschauen. Jeder Lehrer muß jedes Kind nach seinem Namen kennen. Eine humane Größenordnung als deutliche Absage gegen Mammut-Schulen.

„Unsere Schule kann sich die Lehrer auch selbst aussuchen“ - ein Zugeständnis in Sachen Autonomie, wovon andere „Regelschulen“ nur träumen können. Allerdings wird in Hentigs Schule auch mehr vom Lehrer verlangt: Er muß „wirklich selbstbestimmt sein, sonst kann er nie zur Selbstbestimmung erziehen“. Und noch wichtiger: „Jeder Schüler muß wenigstens einen Freund unter den Lehrern finden können. Kinder haben ein Bedürfnis nach Verläßlichkeit …“

Entkoppelung von Ausbildung und Berechtigung. Das ist der politische Kern des Bielefelder Schulversuchs. Und deshalb droht er auch zu scheitern. „Die Schule muß sich weigern, Berechtigungen zu verteilen“ formuliert Hentig hart, denn „dies allein wird ihren Lernprozeß retten“. Es geht um „Personen mit Eigenschaften“ und nicht um „Diplomträger“.

Zurück zu den Lehrern. Ihr Verhalten sei in den letzten Jahren viel humaner, weil viel aufgeklärter gewor den. Die Institutionen sind es aber nicht. Und an den Institutionen, an den Bürokratien droht nun auch Hentigs Versuch zu scheitern. Ist also Hentigs pädagogisches Credo zu hoch gegriffen, wenn er die Aufgabe der Schule darin sieht, „die Kinder auf die Welt vorzubereiten, wie sie ist, ohne sie dieser Welt zu unterwerfen, wie sie ist“? Wenn er daher gegenüber dieser Welt einen „Spielraum“ fordert?

Eine Lehrerin formulierte es in der Diskussion nach Hentigs Vortrag so: „Ich halte die Wahl zwischen zwei schlechten Gewissen, gegenüber der Behörde oder gegenüber meiner Überzeugung, nicht mehr aus!“ Und der steirische Kulturlandesrat Prof. Kurt Jungwirth meinte, man müsse endlich wieder die Frage nach dem Sinn stellen, nach dem Sinn der Arbeit und der Existenz in der städtisch-industriellen Welt. „Diese Gesellschaft hat keine Philosophie. Daher auch keinen psychischen Wohlstand.“ In Graz entsteht eine „Initiative“: für eine „menschlichere Schule“. Eine Voraussetzung dafür ist - so Jungwirth - die Dezentralisierung: eine bürger- nahe Schule. Vom Bund zu den Ländern, von den Ländern zu den Bürgern. Fast schon ein illegales Modell.

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