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Hofübergabe auf Raten?

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Wenn es stimmt, daß der Starke am mächtigsten allein ist, dann ist Bruno Kreisky heute ein schwacher Bundeskanzler und ein noch schwächerer Vorsitzender der Sozialistischen Partei. Einst der Held sozialistischer Wahlsiege zwischen dem Neusiedler- und Bodensee, ist er nach einer Niederlagenserie seiner Partei (Arbeiterkammerwahl, Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg und Steiermark) offenbar in diesem Jahr zum Objekt von Gruppeninteressen in der SPÖ geworden.

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Wenn es stimmt, daß der Starke am mächtigsten allein ist, dann ist Bruno Kreisky heute ein schwacher Bundeskanzler und ein noch schwächerer Vorsitzender der Sozialistischen Partei. Einst der Held sozialistischer Wahlsiege zwischen dem Neusiedler- und Bodensee, ist er nach einer Niederlagenserie seiner Partei (Arbeiterkammerwahl, Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg und Steiermark) offenbar in diesem Jahr zum Objekt von Gruppeninteressen in der SPÖ geworden.

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Vor einem Jahr noch war trotz aller Bedenken des ÖGB-Präsiden- ten Benya Bruno Kreiskys Wort das der SPÖ. Dieser Eindruck ist nun dahin: er mußte in der ÖGB-„Kro- nen“-Zeitung der Zusammenarbeit mit der FPÖ abschwören, innerparteilich bürdet man ihm die Schuld für die offensichtlich schiefgelaufene ORF-Reform auf („er hat zu lange gezögert“), nicht Justizminister Broda, sondern ihn, Kreisky, kritisiert man wegen der unglücklichen Regierungs-Optik in Sachen Fristenlösung („er hat uns den Frieden mit der Kirche versprochen, nun treten der Kardinal und die Bischöfe gegen uns auf“), kurz: Bundeskanzler und SP-Vorsitzender Bruno Kreisky steht heute im Mittelpunkt innerparteilicher Kritik.

Zum allzeit Kreisky-kritischen Gewerkschaftsflügel gesellte sich zuletzt Justizminister Broda, der neuerdings als Favorit für die Kanzleroder Vizekanzler-Funktion in einer großen Koalition genannt wird. Brodas Dementi („groteske Kombination“) erinnert dabei ein wenig an

Kreiskys Haltung zum nächsten Wahltermin: jahrelang behauptete er, daß nur im Oktober 1975 gewählt werden dürfe, nun hört man es anders. Wegen „der provokanten Haltung der ÖVP“ scheint Kreisky nämlich doch bereit, den Wahltermin etwa auf den 2. März 1975 vorzuverlegen.

Leopold Gratz, ein Meister der Taktik, hat noch früher den innerparteilichen Meinungsumschwung geahnt. Schon bei der SP-Klausur in Innsbruck trat er für eine Vorverlegung des Wahltermins ein; der zweite „Kronprinz“, Finanzminister Androsch, stapfte gleich danach in den Fußspuren seines möglichen Zukunftskonkurrenten. Nun haben die Meinungsforscher für die nächste Nationalratswahl nur eine relative Mehrheit einer der beiden Großparteien und eine weitere empfindliche Niederlage der FPÖ (man spricht hier vom sogenannten „Peter- Malus“) erkundet. Dennoch dürfte Bundeskanzler Kreisky, wie vor ihm Josef Klaus, mit der Forderung nach einer absoluten Mehrheit durch die Lande ziehen. Offensichtlich baut er darauf, den ÖVP-Bundesparteiob- mann Schleinzer in einem Persönlichkeitswahlkampf entscheidend schlagen zu können.

Eine große Koalition — und welche Partei darin immer den Bundeskanzler stellen darf — dürfte Kreiskys Rückzug aus der Innenpolitik signalisieren. Denn ein Bundeskanzler Kreisky hält einen Vizekanzler Schleinzer physisch, ein Vizekanzler Kreisky einen Bundeskanzler Schleinzer psychisch nicht aus.

Im Vordergrund der innenpolitischen Szene Österreichs erleben wir derzeit ein Tauziehen um den nächsten Wahltermin (SPÖ-Motto: „Wir sind keine Sesselkleber“), im Hintergrund aber ereignet sich in der SPÖ eine Hof Übergabe auf Raten: drei Kandidaten, Finanzminister An- rosch, Justizminister Broda und Wien-Bürgermeister Leopold Gratz, kämpfen um die Nachfolge Kreiskys. Da vor allem ÖGB-Präsident Benya über die Besetzung des sozialistischen Kanzlers oder Vizekanzlers in der nächsten Legislaturperiode zu entscheiden hat, liegen die Trümpfe eindeutig bei Broda. Er genießt das Vertrauen des Gewerkschaftsflügels, besitzt taktische Größe und ein dialektisches Format wie keiner der beiden anderen. Da er anderseits kein Volkstribun ist, könnte man sich in der SPÖ im Hinblick auf die Wahlen nach der nächsten Wahl darauf einigen, entweder Androsch oder Leopold Gratz zum Parteivorsitzen-

den zu wählen. Für diese Funktion dürfte Gratz die besseren Chancen besitzen: er beherrscht den Wiener Parteiapparat, hat heute ein besseres Verhältnis zu den SP-Funktianären und war immer auf Konsens mit Anton Benya bedacht.

In der kleinen und in der großen Politik gibt es Normen, deren Gesetzmäßigkeit man immer erst dann zu akzeptieren bereit ist, wenn eine bestimmte Entwicklung vollzogen ist. Was heute nahezu unglaublich oder doch sehr spekulativ erscheint, ist morgen Wirklichkeit, an die man dpeh immer schon glaubte. Vor einem Jahr spielte Friedrich Peter den

Gottvater der Innenpolitik, heute darf er froh sein, wenn seine Partei ihn noch akzeptiert; vor einigen Jahren galt Friedrich Niederl als krasser Außenseiter in der Steiermark, vor wenigen Wochen bescherte er sich und seiner Partei den größten Triumph in der Geschichte der ÖVP seit 1945; noch vor einem halben Jahr, nach der Bundespräsidentenwahl, war Bundeskanzler Kreisky strahlender Held, heute ist er angeschlagen. Und in einem weiteren Halbjahr? — Wie gesagt, es gibt Normen in der Politik, an die Sieger wie Verlierer glauben müssen.

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