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Holl in der Redewelt

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Die Welt der Bauern.

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Die Welt der Bauern.

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Die Welt der geflohenen Landarbeiter.

Die neue, in einen Konkurrenzkampf gestürzte Landwelt.

Die Welt der Maschinen und ihrer Menschen.

Überall, wo mit den Händen gearbeitet wurde, konnte Holl hingehen und sich sofort beteiligen. All diese Welten waren ihm vertraut. Keine hatte er abgeschlossen, ganz aufgegeben. Aus der Bauernwelt hatte er immer noch Kleider im obersten Fach des Schrankes, zu kleine Flanellhemden, handgestrickte Socken aus dickem grauen Garn, zu kurze Lodenhosen. Ein Teil lag noch bei der Mutter, irgendwo in Schachteln verpackt Von all diesen Welten hatte er etwas abbekommen, ihre Menschen lebten, mischten sich in seine Entscheidungen ein. Diese Menschen konnte er nicht einfach wegschicken, ihre Existenz nicht einfach aus dem Kopf schütten. Uber eine mehr als zwanzig Kilometer lange Talseite wußte er Bescheid, von der Talsohle bis hinauf zu den höchsten Gehöften, an der unteren Waldgrenze kannte er Menschen, hatte mit ihnen gelebt, und er sah ihre Gesichter immer noch und wußte nur zu genau, aus welchen Betten, in welchen Kammern sie sich in frühen, noch dunklen Stunden erhoben, um sich das tägliche Brot zu verdienen. Über diese Menschen befragt, hätte Holl reden können, aber die Leute in der Stadt fragten ihn höchstens, warum er so große Hände habe. Ihr Blick auf seine Bauemhände machte ihn unsicher. Die Schlosserarbeit hatte sie nicht kleiner gemacht. Auch Ziller war ein Mensch mit zu großen Händen, die nicht zur anderen Welt, der Welt des Redens, paßten. Die Welt des Redens wollte mit zu großen Händen nichts zu tun haben. Die Welt des Redens hatte sich keine Arbeitsgeschichten, keine schweren Geschichten zu erzählen und fragte deshalb nur nach wenigen Dingen. Ort und Datum der Geburt Beruf. Marne. Eltern, Vorstrafen. Handgeschriebener Lebenslauf. Mehr will die Welt, die vom Reden lebt, von einem Angehörigen, der aus der Arbeitswelt kommt, nicht wissen. Sie steht höchstens da, mustert ihn mit einem kühlen Blick, fragt aber nicht, was ihm denn in der Arbeits welt zugestoßen sei, daß er nun in die Welt des Redens Vordringen wolle. Voller Hoffnung, ehrfürchtig, interessiert und ängstlich hatte Holl die Schwelle in die Welt des Redens überschritten und sich schüchtern in die letzte Bank gesetzt, um sie jederzeit ohne viel Aufsehen wieder verlassen zu können.

Eigentlich war es nur eine von den vielen Schwellen, von denen aus man tiefer in die Welt des Redens vordrin-

gen konnte. Er wollte sich diese ihm so fremde Welt erst einmal eine Weile an- sehen, um herauszufinden, was in ihr wichtig war. Aber das war nicht möglich. Hier bestimmten nicht Bauern und Arbeiter, sondern Leute, die schon lange in der Redewelt gelebt hatten. Sie waren in der Redewelt aufgewachsen und arbeiteten für die Redewelt, wurden von der Redewelt entlohnt. Das Geld, das ihnen für ihre Redetätigkeit ausgehändigt wurde, brauchten sie sich nicht von Arbeitern, Bauern und Kleinhandwerkern abzuholen, es erreichte sie auf kompliziert eingelegten Umwegen und lag jeden Monat pünktlich zu einem bestimmten Tag auf der Bank. Das Geld, dessen Fluß Holl unbewußt in das Randdasein der Redewelt gefolgt war, war einfach da und verriet seine Herkunft nicht. Natürlich hatte Holl von der Redewelt gelesen, aber da war sie in Bücher gebannt, da war sie Phantasie, und er konnte sich selber in eine phantastische unbeschwerliche Existenz versetzen. Jetzt jedoch, als Vertreter aus der Redewelt plötzlich so nahe vor ihm standen, daß ihm manchmal vorkam, er hätte es gar nicht geschafft, zu ihnen vorzudringen, er träume nur, ging ihm alles zu schnell. Durch sein rasches Vorankommen in der Arbeitswelt hatte er sich eingebildet, daß ihn das Glück begünstigen würde. Das glaubte er, wenn er von einem Lehrer aufgerufen wurde. Er erhob sich und hoffte, das Gefragte würde in seinem Kopf die richtige Antwort finden. Dann stand er ganz blöd da und wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Es dauerte nicht lange und seine Einbildungen, was er alles schon wäre, waren auf die Realität heruntergeprüft, und er mußte sich mit seinem Gestotter, seinen Angstzuständen und Schweißausbrüchen herumschlagen. Mit einem derart lächerlichen Menschen wollte er nichts mehr zu tun haben. Er hatte sich eingebüdet, über Deutschkenntnisse zu verfügen, aber als er die ersten Aufsätze zurückbekam, mußte er allmählich einsehen, daß ęj- über keine Deutschkenntnisse verfügte. Da konnte er auch nicht dem Lehrer die Schuld geben, denn es war die geschriebene Sprache, die ihm Schwierigkeiten bereitete. In der Volksschule hatten er und sein Freund Leo immer nur fünf bis sechs Zeilen lange Aufsätze geschrieben und deshalb wohl nicht allzu viele Fehler machen können. Er schrieb auch jetzt nur jeweils eine Seite, weil ihm zu den Themen, die von der Redewelt gestellt wurden, nichts einfiel. Der Wortschatz, dessen richtige Schreibweise ihm vertraut war, reichte oft nicht einmal für einen vollständigen Satz. Fiel ihm ein brauchbarer Gedanke ein, mußte er ihn wieder aufgeben, weü Wörter zu seinem Ausdruck nötig waren, deren Schriftbild er sich nicht vorstellen konnte. Er hatte diese Wörter vielleicht schon hundert- oder tausendmal gelesen, sich dabei aber immer nur um ihre Bedeutung gekümmert, nicht aber um ihr Aussehen. Anfangs hatte er seine wenigen, für die Redewelt brauchbaren Gedankengänge in unbekümmertem Eifer niedergeschrieben, aber der vielen Wörter ansichtig,

die er entstellt hatte, dachte er: Das ist nichts, so kommst du nicht durch. Er wurde dann vorsichtig, schrieb nicht mehr jeden Gedankengang, der ihm in den Sinn kam, sofort ins Heft, sondern überlegte zuerst: Kommen Wörter vor, die dir Fehler einbringen können? Zu seinem Trost hatte sein Banknachbar, ein ehemaliger Gymnasiast, keine Ahnung, wo Satzzeichen gesetzt werden sollten. Hatte er einmal viel zu wenige Beistriche, setzte er beim nächsten Mal so viele, daß Dr. Wieland, der Deutschlehrer, der keinem Teilnehmer etwas zuleide tun wollte, nicht wußte, was er dazu sagen sollte. Auch andere hatten Schwierigkeiten, mühten sich nach Ausdrücken ab, von denen sie glaubten, daß sie Dr. Wielan gefallen könnten, tappten nach originellen Wendungen und Pointen und schlugen daneben. Zwei oder drei wiederum fanden nie heraus, warum ihre Arbeiten immer der Vorstellung von Dr. Wielan entsprachen.

Dr. Wielan machte alles: von den Anfängen der altgermanischen Dichtung bis zur „Blechtrommel“ von Günter Grass. Alle Epochen. Er ließ keinen Namen aus. Er legte sich nirgends’fest, sondern erwiderte die fragenden Blicke seiner Zuhörer, die stöhnend ihre Hefte mit Namen, Jahreszahlen, Werken und Jahreszahlen, Epocheneinleitungen und Strömungen vollkritzelten, daß es das eben gegeben habe oder daß das eben auch seine Berechtigung habe. Dr. Wielan ließ alles gelten. Freilich war das besser als nichts, besser als Lochs Versuche, die Leute mit längst überholten Theorien für Gebirgsfaltungen zu interessieren. Professor Loch lebte zwar in der Gegenwart und führte ein äußerst belastendes Dasein, ließ aber weder in seinem Geschichtsunterricht noch in Geographie die Gegenwart Vorkommen. Die Geschichte endete für ihn mit den Habsburgem. Von der Wirtschaft sagte er, daß er sich nicht mit ihr befasse, weil sie sich stets ändere. Dr. Loch zwang die Leute, alle Namen und Jahreszahlen der Habsburger auswendig zu lernen, um sie jederzeitaus dem Gedächtnis heruntersagen zu können. Dr. Ltich schaffte sich injeder Klasse, die er betrat, sofort Opfer, die seinen zustechenden Blick fürchteten und die er auch jederzeit, wenn er es wollte, sofort erledigte. Bei Wielan war das eher umgekehrt. Wenn er einen aufgerufenen Kandidaten erwischte, der auf seine schonend gestellten Fragen mit keinem einzigen Ton zu antworten vermochte, ließ er sich dessen Heft zeigen, blätterte darin und sagte: Er müsse wohl Pech gehabt haben, daß er gerade Fragen erwischt hätte, die dem Kandidaten vielleicht nicht so vertraut seien. Dr. Wielan trug unermüdlich vor, schrieb Namen und Jahreszahlen an die Tafel, so schnell, daß er sie selber nicht einmal lesen konnte,

er besserte die Namen immer wieder aus, fügte irgendwelche Haken und Schlingen hinzu, war ständig in Bewegung: von der Tafel weg, zur Tafel hin. Direktor Köttner durchlief mit ausgestrecktem Zeigefinger und erhobenem Haupt das ganze Klassenzimmer, fuhr den Leuten, von denen anfangs viele sofort eingeschlafen waren, mit dem Finger an die Augenlider, redete sich von den Anfängen der Menschheitsgeschichte über entstehende und zerfallende Reiche bis zur Völkerwanderung herauf und brach plötzlich halb wahnsinnig zusammen. Sein jüngerer Nachfolger durchschritt ebenfalls das ganze Klassenzimmer, zwang zur Mitarbeit und hatte ein ausgezeichnetes Wissen über Türkeneinfälle und Kreuzzüge. An die hundertfünfzig Jahreszahlen wußte Holl über Türkeneinfälle.

Das Gefährliche in der Redewelt war, daß sie nichts begründete. Die Vertreter der Redewelt kamen einfach zur Tür herein, ließen sich grüßen und fingen an zu reden. Die Arbeitswelt begründete auch nichts, aber Holl wußte wenigstens, daß das, was er anfaßte, Feinschmied nützte, dem Magistrat, dem Scheinwerferzertrümme- rer oder einer Konkurrenz des Scheinwerferzertrümmerers zugute kam. Und das Verlockende in der Redewelt für ihn war, daß er glaubte, die Redewelt beabsichtige nichts. Die Redewelt sei nur dazu da, um dem, der in sie hineingeht, Wissen zu vermitteln. Und er war eifrig und interessiert, weil er sich sagte: Die Redewelt ist gut, weil mich die Redewelt nicht zu Geld macht. Er war an allem interessiert und entwickelte unheimliche Energien, lernte ganze Nächte, vor kom- missionellen Prüfungen drosselte er den Schlaf auf drei Stunden und hielt das bis zu drei Wochen durch. Alles, was von einem Angehörigen der Redewelt yorgebracht wurde, schien ihm wichtig. In seinem ersten Schrecken, als die verschiedenen Sprecher ihr Wissen auf die Zuhörer losließen, glaubte Holl manchmal, er befinde sich auf einem langsam geschalteten Förderband und das Wissen ziehe auf einem schnelleren an ihm vorbei. Wenn der Arbeiterverräter Meilinger oder einer seiner Untergebenen den Fedemhammer in Betrieb setzte, ein fremdsprachiger Hilfsarbeiter die Metallkreissäge einschaltete, die Vorschlaghämmer dröhnten, mußte er oft aus der Halle laufen, um nicht wahnsinnig zu werden. Welchen Belastungen die Leute ausgesetzt waren, konnte sich nur ein einziger Lehrer, der Nachfolger des alten Geistlichen, vorstellen, Peter Schenk. Als er sich vorstellte und sagte, daß er bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr als Knecht auf Bauernhöfen gearbeitet hatte, atmete Holl erleichtert auf. Endlich einer aus seiner Welt

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