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Hollands EG-Skepsis

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„Die niederländische Wirtschaft hat stark vom Zustandekommen der EWG profitiert.“ Das hört man gewöhnlich von offiziellen niederländischen Stellen, fragt man nach der Einschätzung und den Erfahrungen dieses Staates. In der Tat hat sich der Export mit den ursprünglichen sechs Mitgliedstaaten

seit 1957 von 41 auf über 60 Prozent vergrößert. Insgesamt werden fast 75 Prozent der erzeugten Güter in die Staaten der Gemeinschaft exportiert.

Auch der Import ist gewachsen. Von damals 41 auf knapp 50 Prozent aus den ursprünglichen sechs Staaten beziehungsweise auf über 55 Prozent bei Berücksichtigung der

jüngeren Mitglieder. Von diesen verbesserten Handelsbeziehungen profitiert nicht zuletzt der günstig gelegene „Eurohafen“ Rotterdam.

Freilich sind die Niederlande in wirtschaftlicher Hinsicht auch auf das „andere“ Ausland angewiesen. Gerade deshalb sind die Niederländer in ihren Urteilen über die internationale Lage recht vorsichtig. 1973, als sie sich beispielsweise zu sehr für Israel engagierten, wurde ihnen dafür als einzigem europäischen Land die Erdöllieferung durch die arabischen Staaten gestrichen. Das hat man noch nicht vergessen.

Nach den EG-Ambitionen Österreichs befragt, weichen die Niederländer auch gerne aus. Es gilt, sagen sie, vorerst das Problem der österreichischen Neutralität in Absprache mit allen anderen Staaten zu klären.

1957 waren die Niederlande Gründungsmitglied der EG. Und bis vor gar nicht so langer Zeit blickte man auch noch mit Optimismus, ja sogar mit Euphorie dem Jahr 1992 (Verwirklichung des Binnenmarktes) und den offenen Grenzen entgegen.

Aber auch in diesem Land macht sich eine gewisse Europa-Skepsis breit. 1992 bedeutet ja nicht nur erweiterte Handelsfreiheiten, son-

dem auch eine stärkere politische Einheit. Die Niederlande gehören zu den reichsten Staaten Europas. Deshalb wird erwartet, daß weitaus mehr Portugiesen, Spanier, Italiener und Griechen in das Königreich wollen, das ohnehin schon zu den am dichtest besiedelten Ländern der Welt gehört (rund 430 Einwohner pro Quadratkilometer bewohnbares Land), als es umgekehrt Niederländer ins Ausland zieht. Die Arbeitslosenrate betrug 1988, je nachdem, ob man die unselbständig Beschäftigten oder die Gesamtbevölkerung betrachtet, 14,1 beziehungsweise 8,7 Prozent (zum Vergleich die entsprechenden Zahlen für Österreich: 5,3 beziehungsweise 3,5 Prozent). Auch wenn der Binnenmarkt Schätzungen zufolge etwa zwei Millionen neue Arbeitsplätze (vor allem im Dienstleistungssektor) bringen soll, fürchten sich die Niederländer doch vor dem härteren Konkurrenzkampf. Personaleinsparungen in Hochtechnologiebetrieben, in der Pharma-, Getränke- und Konsumgüterindustrie sind die großen Schreckgespenster.

Derzeit floriert die niederländische Wirtschaft, der Gulden gehört zu den stabilsten Währungen der Welt, die soziale Versorgung ist überdurchschnittlich. So erhält beispielsweise jeder studierwillige Jugendliche, unabhängig vom Notendurchschnitt und dem Einkommen der Eltern, ein sogenanntes Basisstipendium, mit dem er sein (allerdings nicht billiges) Studium finanzieren kann. Um in den Genuß der Arbeitslosenunterstützung (70 Prozent des zuletzt ausbezahlten Gehalts) zu kommen, genügt es, 26 Wochen ohne Unterbrechung gearbeitet zu haben.

„Ein einheitliches Europa ja, aber nicht so rasch“, damit könnte man die Stimmung umschreiben, die gegenwärtig in den Niederlanden herrscht.

Zweifel meldete zuletzt auch einer an, von dem man sie am wenigsten erwartet hätte: Joseph Luns, niederländischer Ex-

Minister für auswärtige Angelegenheiten und letzter noch lebender Unterzeichner des EG-Gründungs-vertrags, bezeichnete im Juli die EG als die größte Enttäuschung seines politischen Lebens. Auch wenn er die Schuld vor allem bei Frankreich ortet, wäre für Luns eine politische Einheit zwischen den ursprünglichen sechs Mitgliedstaaten - allenfalls auch noch mit Großbritannien - möglich gewesen. Mit den südlichen EG-Ländern zusätzlich sei aber jede enge politische Zusammenarbeit ausgeschlossen. Auch die monetäre Einheit Europas hält Luns für unverwirklich-bar, zumindest in absehbarer Zeit.

Die Europaratswahlen vom Juni 1989 haben jedenfalls gezeigt, daß die meisten Niederländer über Europapolitik lieber nachdenken als selbst entscheiden. Die Wahlbeteiligung lag mit 47,2 Prozent etwas unter dem europäischen Durchschnitt.

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