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Honeckers Zivilcourage

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Inmitten des journalistischen Sommerlochs hat sich Erich Honecker durch geschickte Zitate in die Kommentarspalten östlicher und westlicher Presse geschlichen. Er, der unter den Ostblock-Führern jahrelang als der Biedermann schlechthin galt.

1971 löste er den gescheiterten SED-Chef Walter Ulbricht ab, der durch allzu eigenständige Eskapaden bei den Sowjets in Ungnade gefallen war. Gleich bei Amtsantritt legte Honecker die beiden Maximen fest, die er stets mit Akribie und pragmatischen Taten erfüllen sollte: die Betonung der uneingeschränkten Führungsrolle der Sowjetunion sowie die „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes".

Für die Politik gegenüber dem Westen bedeutete das stets eine Anpassung Ost-Berlins an den weltpolitischen Kurs Moskaus.

Bilaterale Verträge zwischen den beiden deutschen Staaten waren im SED-Verständnis von jeher nur vom unverbindlichen Charakter der „friedlichen Koexistenz" geprägt In der außenpolitischen Praxis bedeutete das: Gespräche wurden immer dann aufgenommen, wenn D-Mark und Devisen winkten. Gleichzeitig war man noch immer — mit der UdSSR als ideologischem Vorreiter — mit dem Aufbau des Sozialismus beschäftigt.

Probleme entstanden dann, wenn wirtschaftliche Nöte und ideologische Ängste kollidierten. So wurden die Hochzeiten der Entspannungs-Euphorie durch gezielte Abgrenzung gestört.

Aus Furcht vor systemgefährdender Infiltration wies die DDR zahlreiche westliche Journalisten aus. Der Mindestumtauschsatz für Reisende in die DDR wurde mehrmals erhöht. Bundeskanzler Helmut Kohl und anderen CDU-Politikern, die heute bereits wie-

der von der Wiedervereinigung träumen, wurde die Einreise verweigert.

Die „offene deutsche Frage" beantwortete die SED 1974 überdeutlich, indem sie alle Hinweise auf die „deutsche Nation" aus der DDR-Verfassung tilgte. Honek-ker damals: „Die Antwort auf diesbezügliche Fragen lautet

schlicht und klar und ohne jede Zweideutigkeiten: Staatsbürgerschaft - DDR, Nationalität -deutsch. SO liegen die Dinge."

Aus SED-Sicht hat sich an dieser Beurteilung auch heute nichts geändert. Nur ihr Generalsekretär gab durch eine widersprüchliche Sprachakrobatik Anlaß für Hoffnungen und analytische Gedankenspiele.

Doch das Mediengewitter war nur von kurzer Dauer, längst ist man wieder auf dem Boden der deutsch-deutschen Tatsachen. Von den Gerüchten um eine Wiedervereinigung ist allein die Diskussion um eine mögliche „gemeinsame Kulturnation" übriggeblieben. Der kann auch der gebürtige Saarländer Honecker etwas abgewinnen, denn sie ist mit keinerlei rechtlichen Zugeständnissen verbunden.

Honecker ist ein dogmatischer Gefolgsmann Moskaus. Eine vom Kreml nicht gebilligte politische Tat hat er noch nie riskiert.

Er besitzt nicht die Möglichkeiten des rumänischen Parteichefs Ceausescu, der seine Sportler nach Los Angeles schickte. Die ostdeutschen Athleten durften Olympia nicht einmal am TV-Gerät verfolgen. Dabei kann der Stellenwert des Sports in der DDR (der erfolgreichsten Sportnation aller Zeiten) gar nicht hoch

genug eingeschätzt werden.

Doch Ost-Berlins Spielraum endet unbarmherzig da, wo die Interessen der Sowjetunion beginnen. Die wüsten „Prawda"-Attak-ken gegen beide deutsche Staaten darf man indessen nicht überbewerten, sie waren großteils nur „Revanchismus"-Pflichtübun-gen. Moskau und sein kleiner Partner pflegen in grundlegenden Differenzen andere Kanäle zu benützen.

Aber auch innerhalb der SED-Führung scheint die langfristige Strategie noch nicht entschieden. Bewußt hält man sich alle Wege offen. Das Zentralorgan „Neues Deutschland" spricht neuerdings wieder vom „etwaigen Besuch" Honeckers im September in Bonn. Das letzte Machtwort liegt wie immer in Moskau, auch wenn die Kreml-Führung zur Zeit entscheidungsschwach erscheint.

Wirtschaftliche Zwänge haben Honecker zu einem gesprächsbereiten „Friedenspolitiker" gemacht. Bei seinem kurzen (wenn auch nur rhetorischen) Ausbruchsversuch hat er aber auch erfahren, daß etwas mehr Zivilcourage weit mehr als nur Milliardenkredite bringen kann. Nicht nur im Westen, sondern vor allem bei den Führern der sozialistischen Bruderländer hat er an (menschlichem) Kredit gewonnen. Die tanzen schon seit längerer Zeit nicht immer nach der Kreml-Pfeife.

Honeckers taktisches Kalkül war auch auf die eigene Gesellschaft gerichtet: Dort sieht er sich einer neuen Generation gegenüber, die mit West-Fernsehen aufgewachsen ist, und aller Propaganda zum Trotz ein kritisches .Potential bildet; einer Jugend, die sich mehr mit Witzen über die „DDR-Planwirtschaft" beschäftigt, als mit dem Glauben an „den Sieg des Sozialismus".

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