6981784-1986_12_24.jpg
Digital In Arbeit

Honig, Honig

Werbung
Werbung
Werbung

Das Leben ist wie eine Frau: Wenn man es liebt, wird es schön. Ein schönes Leben zu genießen ist natürlich nicht schwer. Es ist jedoch ratsam, dies zu tun, auch wenn es nicht ganz so schön oder nicht dauernd schön ist. Ich darf es sagen, weil ich nicht als Millionärskind geboren wurde und nicht immer in Frieden und Wohlstand gelebt habe.

Das Leben ist einfach zu kurz, als daß wir es uns erlauben könnten, irgendeine Möglichkeit zu vergeben, seine guten Seiten zu genießen.

Vor zweieinhalbtausend Jahren schrieb der chinesische Philosoph Jang-tschu: „Hundert Jahre ist die höchste Grenze des Menschenlebens, die von tausend Menschen nur einer erreicht. Die Hälfte dieser Zeit nehmen ihm die ohnmächtige Kindheit und das gebrechliche Greisenalter. Von der übrigen Zeit nehmen ihm der Schlaf in der Nacht und nichtige Angelegenheiten am Tage die Hälfte. Kummer, Sorgen, Verluste und Trauer nehmen ihm gut die Hälfte des Restes. Ich weiß nicht, ob man in den zehn Jahren, die verbleiben, eine einzige sorglose Stunde zum Genuß der Lebensfreuden finden kann.“

So sprach der Pessimist, möglicherweise hatte er jedoch den „Schlaf in der Nacht“ und mehrere von den „nichtigen Angelegenheiten am Tage“ voll genossen. Und ich gehe jede Wette ein, daß es für ihn ein Genuß war, jene weisen Sätze zu schreiben. Man kann auch Arbeit genießen, noch mehr ihre Ergebnisse, oder im schlimmsten Fall zumindest die Belohnung.

Zugegeben, man macht es uns heute schwer, zu genießen — nicht nur das Leben als Ganzes, sondern auch seine Einzelteile —, man macht alles mies. Selbst Dinge, die offiziell „Genußmittel“ heißen, stellt man uns als ungenießbar und schädlich dar.

Alles ist schädlich: das Essen, die Luft, die Wände unserer Wohnung (wegen der Farbe)... Wenn man all diese Schrecken wahrnehmen wollte, bliebe einem nur noch der Selbstmord — nur ist Selbstmord, fürchte ich, auch nicht allzu gesund.

Man soll sich nicht selbst betrügen. Wir leben tatsächlich mit Schadstoffen und anderen Gefahren. Ein orientalisches Sprichwort sagt: „Auch wenn du tausendmal Honig, Honig, Honig sagst, wird es im Mund nicht süß.“ Wenn man aber dauernd Essig im Mund hat, kann man den Geschmack des Honigs gar nicht erkennen.

Alle Achtung vor denen, die vor wirklichen Gefahren warnen. Die Miesmacher aber sind eine typische Nebenerscheinung des Wohlstands. Einem Hungrigen kann man das Brot und einem Durstenden das Wasser auch mit zehn chemischen Analysen nicht vermiesen. Ich weiß nicht, ob alle Miesmacher Sadisten sind, die unseren Schrecken genießen, sie genießen aber alle die Früchte der Konjunktur ihrer Offenbarungen.

In der Nahrung unserer Vorfahren gab es nicht weniger Krankheitserreger als in der unseren — wenn nicht die künstlich erzeugten, dann eben die natürlichen, die nicht weniger gefährlich waren. Nur war die Wissenschaft noch nicht so entwickelt, um dies zu entdecken, also lebten die nichtsahnenden Menschen damit und erfreuten sich des Lebens. Manche sogar hundert Jahre lang, wie Jang-tschu bezeugte.

Und wir leben - dank und trotz der Errungenschaften der Wissenschaft - im Durchschnitt länger als unsere Vorfahren. Das

heißt: Ein Leben ist es nur, wenn man nicht jeden Tag vor Angst um sein Leben stirbt.

Es ist eine Sache der Einstellung: Der eine genießt ein gutes Mahl, der andere wiegt Schadstoffe ab und zählt Kalorien. Der eine genießt die verhältnismäßig große Freiheit, die wir in demokratischen Ländern haben, der andere zählt alle Fälle, in denen ihm ein Verkehrspolizist das freie Parken verbot, und behauptet, er lebe in einem Polizeistaat.

Manche genießen gute Bücher, manche wiederum meiden sie, wegen der gefährlichen Erreger des Denkens. Es gibt sogar Leute, die sich das Küssen verbieten, wegen des Bakterienaustausches.

Selbst wenn sich solche Menschen das Leben ein wenig verlängern - was haben sie davon? Ein Leben, in dem man nichts genießt, ist ungenießbar.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung