Die Kraft des leeren Blicks

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Zuviel Konzentration ist auch nicht gut: Das In-die-Luft-Schauen ist ein Nährboden für neue Ideen, die besser sprießen können, wenn der geistige Griff gelockert wird.

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Zuviel Konzentration ist auch nicht gut: Das In-die-Luft-Schauen ist ein Nährboden für neue Ideen, die besser sprießen können, wenn der geistige Griff gelockert wird.

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Letzte Woche war hier ein Loblied auf das völlig unterschätzte Faultier zu lesen. Davon inspiriert, stoßen wir nun in dasselbe Horn, freilich in der Sphäre des Menschlichen, allzu Menschlichen: mit einem Loblied auf den „Hanns Guck-in-die-Luft“. Die Figur aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ ist bekanntermaßen nicht gut angesehen. Sein Blick hängt stets am Himmel; statt auf den Weg schaut er auf Dächer, Wolken, Schwalben – und muss letztendlich aus dem Fluss gezogen werden, in den er hineingestolpert ist.

Diese unglückliche Gestalt hat sogar einem Symptom des Bewusstseinsverlusts den Namen geliehen, das bei einer bestimmten Form der Epilepsie zu beobachten ist. Und sind nicht auch die zunehmenden Unfälle im Straßenverkehr auf den abschreckenden „Hanns“ zurückzuführen, bedingt dadurch, dass immer mehr Menschen zwar nicht in den Himmel, aber umso besessener auf ihr Smartphone starren? Vor lauter Unaufmerksamkeit laufen sie Gefahr, nicht unbedingt im Fluss, sehr wohl aber in einem vorbeibrausenden Auto oder Radfahrer zu landen.

In das Smartphone starren

Heinrich Hoffmann, der Frankfurter Arzt aus dem 19. Jahrhundert, hatte schon Recht: Dass man in der geistigen Verfassung eines „Hanns Guck-in-die-Luft“ die Straßen meiden sollte, ist als Warnung weiterhin gültig. Doch in einer Zeit, in der Pausen immer knapper werden, „Muße“ zum Fremdwort geworden ist; in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit der Menschen immer geschickter eingefangen und kommerziell adressiert wird, die meisten Leute immer lückenloser mit irgendeiner Tätigkeit befasst sind – viele sind von früh bis spät auf einen Bildschirm fixiert –, in solch rastloser Zeit ist es geboten, den Akt des In-die-Luft-Schauens positiv umzuwerten. Denn er schenkt uns eine wohlverdiente Pause und entspannt die Nervenzellen.

So wie das Nickerchen zwischendurch als ‚Power Nap‘ aufgewertet wurde, ist es höchste Zeit, das Loblied auf den ‚Hanns Guck-in-die-Luft‘ anzustimmen.

So wie es sich bei geistiger Arbeit empfiehlt, immer wieder die körperliche Haltung zu ändern (sitzen, stehen, gehen, etc.), ist es sinnvoll, immer wieder auch die Aktivität der Neuronen und somit den Zustand des Gehirns zu variieren. In diesem Fall die Konzentration aufzulösen und die Nervenzellen einmal baumeln und durchhängen zu lassen. Das ist so wohltuend wie bei Muskeln, aus denen man die chronische Anspannung nimmt. Und letztlich auch ein Nährboden für neue Ideen, die besser sprießen können, wenn der geistige Griff gelockert wird.

Das In-die-Luft-Schauen ist so etwas wie das Kleinformat des Nickerchens zwischendurch – aber viel leichter umsetzbar. Das „Eintunken“ während der Arbeitszeit wird in unseren Breiten meist noch schief angesehen, während es in einigen Settings und Kulturen bereits als „Power Nap“ aufgewertet wurde. Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen und endlich das Loblied des leeren Blicks anstimmen: vom neuen „Hanns Guck-in-die-Luft“ mit dem „Power Look“.

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