Fatal, wenn Fragen fehlen ...
Je stärker autoritäre Tendenzen, desto größer die Abneigung gegenüber Fragen. Warum das so ist, erklärt Martin Tauss in seiner Kolumne "Human Spirits".
Je stärker autoritäre Tendenzen, desto größer die Abneigung gegenüber Fragen. Warum das so ist, erklärt Martin Tauss in seiner Kolumne "Human Spirits".
Zur Bewältigung der Coronakrise warb Angela Merkel letzte Woche im Europäischen Parlament für Gemeinschaftsgeist. Dort sprach sie bemerkenswerte Worte: „Europa wird nur gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, wenn wir bereit sind, (...) die Welt auch mit den Augen des Anderen zu betrachten.“ Wow! Solche Statements sind rar geworden. Sie klingen fast schon so, als würde man uns auffordern, die Welt mit den Augen eines Außerirdischen zu sehen. Die Perspektive des Anderen einzunehmen bedeutet immer auch, sich selbst zu hinterfragen.
Das ist politisch nicht gerade hoch im Kurs. Je stärker autoritäre Tendenzen, desto größer die Abneigung gegenüber Fragen. Aber auch der österreichische Bundeskanzler scheint Fragen nicht sonderlich zu schätzen: Im Modell der „Message-Control“ werden vorgefertigte Antworten abgespult – selbst wenn sie gar nicht zur Frage passen. Führen ohne Fragen: Bis zu einem gewissen Grad ist das auch verständlich, denn irgendwer muss ja vorgeben, wo es langgeht, und bei entschlossenem Vorgehen sind zu viele Fragen nur hinderlich – vor allem in Politik und Wirtschaft. Doch wenn Fragen schmerzhaft fehlen, sollten die Alarmglocken schrillen. Schließlich gehören sie zum innersten Wesen des Menschen. Kinder sind natürlich neugierig und stellen Fragen, um die Welt zu begreifen.
Fatal wird es, wenn diese geistige Tätigkeit, früher oder später, einmal aufhört: weil man glaubt, ohnehin schon alles zu wissen. Manche machen sogar einen Beruf daraus, immer und überall eine Antwort zu haben: professionelle Redner, selbsternannte Zukunftsforscher, „Money-Coaches“, Innovations- und Business-Experten, die die „Gesetze der Gewinner“, die „Geheimnisse des Erfolgs“ oder alle anderen Rätsel des Universums leicht verständlich darzulegen vermögen. Das Gewerbe der Welterklärer blüht, weil sie etwas heiß Ersehntes verkaufen: den Weg in die Fraglosigkeit. Man kann freilich auch nie aufhören zu fragen und daraus eine Art von Haltung machen. Denn vieles wartet darauf, hinterfragt zu werden – nicht zuletzt das Leben selbst.
Dass die ganze Existenz zur Frage werden kann, beschreibt Stephen Batchelor in seinem autobiografischen Buch „The Faith to Doubt“. Bei einem Waldspaziergang hatte er ein einschneidendes Erlebnis. Unvermittelt stellte sich die Erfahrung ein, dass „alles schieres Mysterium“ ist: „Wie ist es möglich, dass man sich dieser offensichtlichsten Frage nicht bewusst ist?“, wunderte sich der britische Autor. „Es war keine Erleuchtung, in der sich eine endgültige Wahrheit offenbarte. Denn ich erhielt keine Antworten. Nur die Wucht der Frage wurde offenbar.“ Aus solch existenzieller Perspektive erscheint das Fragen als Akt der Demut. Das Wissen hingegen als Akt der Anmaßung. Ob die Ahnung vom Wert des Fragens kulturell wieder einmal stärker prägend wird als heute – wer weiß?
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