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Hunger trotz Uberschuß

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Armut ist kein Schicksal, sie wird gemacht, sowohl in Entwicklungsländern als auch in reichen Industriestaaten. Gibt es Lösungsmöglichkeiten?

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Armut ist kein Schicksal, sie wird gemacht, sowohl in Entwicklungsländern als auch in reichen Industriestaaten. Gibt es Lösungsmöglichkeiten?

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Wenige Tage vor der heftig kritisierten Mammutkonferenz des Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) in Berlin veröffentlichte die Weltbank ein Dokument über Finanzierungsprobleme in der Dritten Welt, das besondere Aufmerksamkeit verdient.

Darin heißt es nämlich, daß die Milliardenkredite auf Dauer keine wirtschaftliche Besserung bringen, solange die betreffenden Länder keine drastischen Maßnahmen gegen das steigende Bevölkerungswachstum unternehmen.

Damit war erstmals deutlich ausgesprochen, was ohnehin alle Finanzfachleute dachten. . Die Aussage scheint simpel: solange es kein effektives Geburtenregelungsprogramm gibt, nützt auch ein relativ hohes Wirtschaftswachstum nichts. Je mehr Menschen, desto mehr Geld muß für Nahrungsmittel verwendet werden. Oder?

In Zukunft sollten demnach nur mehr jene Länder mit Krediten begünstigt werden, die sich einem entsprechenden Geburtenkontrollprogramm unterwerfen.

Schon 1984 veröffentlichte die Weltbank die Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung in der Dritten Welt. So wird beispielsweise Kenyä mit derzeit 18 Millionen“ Menschen bei gleichbleibendem Bevölkerungswachstum im Jahre 2050 mehr als 150 Millionen Einwohner zählen. 20 der 25 größten Städte der Welt mit mehr als zehn Millionen Einwohnern werden dabei in den ärmsten Ländern der Welt liegen.

Welche Fehlentwicklungen das heutige Weltwirtschaftssystem nimmt, wurde vor kurzem im Schweizer Fernsehen vor Augen geführt. Die amerikanische Serie „Hunger im Uberfluß“ zeigte die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen steigender Uberschußproduktion und der gleichzeitigen Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Betroffen davon sind sowohl reiche Industriestaaten wie die USA als auch arme Entwicklungsländer.

Gleichzeitig wurden auch Lösungsschritte angeboten, wie durch einfaches Umdenken der derzeitigen Wirtschaftsstrukturen verheerende Fehlentwicklungen in Zukunft verhindert werden können.

Als weltgrößter Agrarprodu-zent könnten die USA allein durch ihre jährlichen Uberschußmengen das Hungerproblem in absehbarer Zeit beseitigen helfen.

In den siebziger Jahren ermunterten noch Banken und Politiker die Farmer zur Aufnahme von immer größeren Krediten, zu vermehrten Landzukäufen und Produktionssteigerungen, da sich damals durch hohe Weltmarktpreise bei Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln gute Geschäfte machen ließen.

Als Folge der daraus entstandenen Uberschüsse fielen aber die Preise bald in den Keller, die Farmer standen nun vor vollen La-^gerhausern mif unverkäTafTtchem Getreide; dazu immer drückendere Schulden bei den Banken.

.......Am Beispiel einer etwaSOjährigen Farmerin aus dem Mittleren Westen wird die ganze Absurdität der amerikanischen Agrarpolitik illustriert. Ohne Hoffnung, ihre Schulden jemals zurückzahlen zu können, lebt die Frau bis heute auf ihrer Farm, von ihrer Gläubigerbank restlos bis ins Privatleben kontrolliert.

Vüährend ihre Lagerhallen berstend voll mit unverkäuflichem Getreide sind — wofür sie sogar staatliche Unterstützung zur, Lagerhaltung erhält — wurde sie gleichzeitig vom Sozialamt als äußerst bedürftig eingestuft, mit dem Anrecht auf kostenlose Lebensmittelzuteilung !

Immer weniger, aber ständig größer werdende Betriebe und Industriekonzerne kaufen nun das zur Versteigerung gelangende Farmland auf. Durch entsprechende Rationalisierungsmaßnahmen und ungeheuren Einsatz von Chemie werden laufend grö-

ßere Erntemengen und dadurch Profite erwirtschaftet, während immer mehr Menschen in den Großstädten auf öffentliche Gra-tisausspeisungen angewiesen sind.

Die jährlich anfallenden Uberschüsse bei der Nahrungsmittelerzeugung können gezielt als Entwicklungshilfe für Dritte-Welt-Länder abgebaut werden, gibt man im amerikanischen Landwirtschaftsministerium unumwunden zu.

Aber Erfolg und Mißerfolg staatlich praktizierter Hilfslieferungen lassen sich am Beispiel zweier vergleichbarer Länder ablesen: dem südindischen Bundesstaat Kerala und Bangladesh.

Beide Länder waren bis vor kurzem von chronisch auftretenden Hungersnöten, etwa 80pro-zentigem Analphabetismus und einer überaus hohen Geburtenrate geplagt.

In Kerala konnte aber vor wenigen Jahren durch entsprechenden Druck von unten eine gerechtere Verteilung der staatlich geförderten Lebensmittel durchgesetzt werden. Durch kostenlose medizinische Versorgung, die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und bessere Ernährung von Säuglingen und schwangeren Frauen änderte sich die Lage schlagartig.

In Bangladesh hingegen blieben sowohl die wirtschaftlichen wie politischen Strukturen unverändert. Selbst umfangreiche US-Getreidelieferungen vermochten das Hungerproblem bis heute nicht in den Griff zu bekommen. Die Verteilung von billigen, für die Ärmsten aber immer noch zu teuren Lebensmitteln verläuft wie eh und je: zuerst Polizei- und Armeeangehörige sowie die wohlhabende Beamtenschicht und Angehörige der herrschenden Staatspartei, der Rest der Bevölkerung, vorwiegend in der Provinz lebend, geht leer aus.

Als erstaunlichstes Ergebnis der wirtschaftlichen und sozialen Änderung in Kerala zeigt sich heute, daß mit steigendem Wohlstand auch die Bevölkerungsrate wesentlich zurückging. Waren früher acht, neun und mehr Kinder in der Familie die Regel, sind es heute nur mehr ein bis zwei Kinder. Durch die gesicherte wirtschaftliche Existenz sind die Eltern nicht mehr wie früher auf möglichst viele Kinder zur Altersversorgung angewiesen.

Die Eltern erkennen auch, daß sie einem oder zwei Kindern eine wesentlich bessere Ausbildung und damit gesicherte Existenz bieten können, als dies früher der Fall war.

In Bangladesh aber bleibt trotz Elend die Geburtenrate unverändert hoch. Somit zeichnet sich die nächste Hungerkatastrophe schon ab.

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