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Hurra-Ereignis

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Die Uhr des Spasskij-Turmes schlägt zehn Uhr vormittags, wenn sich am 7. November eines jeden Jahres Sowjetrußland zur Feier der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution zusammenfindet. Auf dem Roten Platz in Moskau vor dem Leninmausoleum sind Eliteeinheiten der Streitkräfte angetreten, deren Fronten der Verteidigungsminister in einer offenen Limousine stehend abfährt.

Das einzige, was der Parteichef an diesem höchsten Feiertag des Sowjetstaates tut, ist, daß er dem Vorbeimarsch organisierter „Werktätiger“ zuwinkt, die mit Transparenten, Plakaten und geschmückten Autos über den Platz ziehen. Die wirtschaftlichen Errungenschaften werden gepriesen, und die ganze Zeit über schmettert Marschmusik aus den Lautsprechern. Die „parad“ am 7. November in Moskau ist ein wahres „Hurra-Ereignis“, das über Fernsehen in die letzten Winkel des Sowjetlandes übertragen wird.

Der Eindruck von volksfestähnlicher Spontaneität verschwindet, wenn man näher an das Ereignis herangeht. Die frohgemut vorbeiziehenden „Werktätigen“ marschieren hinter Absperrungen auf den Roten Platz zu. Sie lachen und machen Witze, unterhalten sich aber über etwas ganz anderes als das, was sie—von play-back-Ton-bändern kommend—wie mit einer Klangwolke zudeckt: das Feierli--chey Revolutionäre. - .

Aus dieser Schilderung der jährlichen Feier läßt sich der Stellenwert des Ereignisses für den heutigen Sowjetstaat und seine Menschen ableiten. Mit der Revolution begann eine „neue Ära in der Geschichte der Menschheit“, wie die offizielle Wertung lautet. Diese Darstellung ist einer der grundlegenden „Glaubenssätze“ der sowjetischen Ideologie, der sich durch alle Schulbücher und sämtliche Unterrichtsfächer in den Schulen zieht. Alles wird davon hergeleitet.

Die Oktoberrevolution ist für die sowjetische Ideologie ein Einschnitt, vergleichbar der Geburt Christi in der Zeitrechnung des Abendlandes. Was vor 1917 war, gilt als alt und überholt, wenn nicht sogar als verwerflich; alles, was nach 1917 geschah und geschieht, trägt die Aura des Neuen und Fortschrittlichen, des Überlegenen und Zukunftsweisenden.

Mit diesem Credo sind seit 1917 schon mehrere Generationen herangewachsen: wenn heute 1987 noch der eine oder andere Zeitzeuge der Revolution lebt, so war er bei den Ereignissen selbst sehr jung, und mittlerweile ist er sehr alt — von den Zeitzeugen sind keine anderen als die offiziellen Wertungen der Revolution zu erwarten. Alle späteren Generationen haben die verordneten Darstellungen der Revolution und ihrer Bedeutung gleichsam mit der Muttermilch eingesogen.

Man könnte nur allzu leicht den Schluß ziehen: naja, die Russen sind halt ein Volk von Sklaven, und sie haben die Sklaverei der Zaren bloß gegen die Sklaverei des Politbüros der KPdSU eingetauscht.

Dies ist ein für den Westen immer verlockender Gedankengang, in dem zwar ein Kern Wahrheit stecken mag, aber die Oktoberrevolution und die Machtübernahme der Bolschewiken haben den Menschen auch manches gegeben, was sich nicht leugnen läßt—auch wenn die pluralistische Demokratie nicht dazugehört. Bildung, soziale Sicherheit zählen zu den un-zweifelbaren Errungenschaften.

Aber noch eins, und das berührt das Selbstwertgefühl der Russen: „Rußland, die Heimat des Leninismus, hat den Grundstein gelegt für die sozialistische Weltrevolution.“ (Siehe Seite 14) Die Pionierrolle des Sowjetstaates wird den Menschen eingebleut, und die Tatsache kann nicht aus der Welt geschafft werden, daß der „Sozialismus“ in seinen verschiedenen Manifestationen und unter den verschiedensten Umständen seit 1917 in vielen Ländern zur mehr oder weniger bestimmenden politischen Kraft geworden ist. Und dabei waren die Russen mit ihrer Oktoberrevolution die ersten!

Es mag sein, daß die Gesichter der organisierten Männer und Frauen am 7. November beim Vorbeimarsch nicht mehr vor revolutionärem Eifer glühen, wenn sie laut schwatzend und übertönt von Parolen und Massenchören über den Platz ziehen. Oktoberrevolution und leninistisches Staatsmodell sind aber längst nicht mehr zu trennen vom russischen Patriotismus, und diesen traut sich niemand mehr als starke treibende Kraft in der Sowjetunion zu negieren.

Die Sowjetunion feiert den 70. Jahrestag ihrer Revolution zu einer Zeit, da der Parteichef der KPdSU angetreten ist, das Land aus den Untiefen und Flauten der letzten Jahre herauszuführen. Dabei greift er an seinen Vorgängern von Leonid Breschnew bis Josef Stalin vorbei und zurück an die Wurzeln des Sowjetstaates.

Hält man sich vor Augen, daß Gorbatschow in der Abrüstung aufsehenerregende Initiativen setzt und zu Vertragsabschlüssen bereit scheint; daß er den Landarbeitern zwar nicht den Boden übergeben, aber ihre wirtschaftliche Verantwortung für die Nutzung der Felder vergrößern und auch in der Industrie das Interesse der Arbeiter an dem Produkt ihrer Arbeit stärken will, so kann man daraus den Schluß ziehen, daß die Oktoberrevolution und ihre grundsätzlichen Ziele (siehe obigen Kasten) zu diesem 70. Jahrestag aktueller sind als früher.

Der Autor, von 1979 bis 1985 ORF-Korrespondent in Moskau, ist Leiter der Redaktion für Ost- und Südosteuropa beim Osterreichischen Rundfunk.

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