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Hydepark-Corner Ungarn

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Ungarns Kommunisten wollen ein neues System des Sozialismus schaffen. Werden sich die Geschehnisse an dieses Vorhaben halten?

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Ungarns Kommunisten wollen ein neues System des Sozialismus schaffen. Werden sich die Geschehnisse an dieses Vorhaben halten?

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Ungarns Kommunisten steht eine Wurzelbehandlung bevor. Ist der faule Zahn, der dem gesamten Körper über Jahrzehnte viele Schmerzen bereitete, noch zu retten, oder muß er gerissen werden? Mit welcher Füllung könnte eine Wurzelbehandlung noch gelin-

gen? Verschiedene Amalgame werden jetzt gemixt. Die Frage ist, ob Ungarn ohne diesen Zahn überhaupt auskommen kann.

Regierungssprecher György Marosän, der am Montag dieser Woche Wiener Journalisten ein gigantisches Reformprogramm der neuen Regierung unter Ministerpräsident Miklös Nėmeth vorstellte (30 neue Gesetze sollen vom ungarischen Parlament heu

er noch verabschiedet werden, in den vergangenen Jahren waren es jährlich etwa fünf), auf die Frage, ob die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) bei Wahlen oder Volksabstimmungen (etwa über das Kraftwerk Nagyma- ros oder über Ungarns Weltausstellungspläne für 1995) stolpern könnte: „Wir wünschen uns ja jemanden, dem man die Macht übertragen könnte. Aber niemand ist dafür geeignet. Es liegt im Gesamtinteresse der ungarischen Gesellschaft, daß die Kommunisten an der Macht bleiben.“

Die Magyaren werden also auf ihrem kommunistischen Zahn weiterbeißen müssen. Marosän sieht alle oppositionellen, parteiähnlichen Kräfte zu sehr mit ideologischen Grundsatzfragen (etwa über die Ereignisse 1956 oder über das neue ungarische Wappen) beschäftigt, als daß sie

in der Lage wären, auf reale Fragen der Landsleute („Wann wird das Lohnsackerl voller?“) eine Antwort zu geben. Die Partei — so Marosän — muß die „Phase der Kinderkrankheiten“ der neuen politischen Strömungen zum eigenen Vorteil nützen. Von den „zu hoch gegriffenen“ Themen der Quasi-Parteien sei das ungarische Volk ohnehin enttäuscht.

Daher also der Versuch, mit einer radikalen Wurzelbehandlung zu retten, was noch zu retten ist. Die Stichwörter lauten Liberalisierung und Deregulierung - vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Die neuen Bestimmungen über den „Ausbau der Marktwirtschaft“, über die Gleichbehandlung verschiedener Eigentumsformen, über die Eröffnung der Börse noch dieses Jahr sowie über forcierte (Re)privatisierung gehen Hand in Hand mit einer Ver

fassungsänderung zur Schaffung eines Rechtsstaates.

Ungarn zündet ein wahres Feuerwerk an Reformen: Nach dem neuen Vereinsgesetz wird jetzt das Streikrecht diskutiert und auf ein neues Presserecht hingearbeitet. Ein Verfassungsgericht soll ebenso wie ein Verwaltungsgerichtshof geschaffen werden. Der alternative Präsenzdienst wurde eingeführt. Nachgedacht wird über die Zulassung von Parteien, über Wahlen und über das Institut der Volksabstimmung. In Vorbereitung ist ein Gesetz über Gewissens- und Religionsfreiheit.

Die Zeit eilt Ungarn davon. Die Partei hechelt hinterher. Es gilt eine Inflationsrate von etwa 17 Prozent zu bewältigen sowie der Verschuldung Herr zu werden. Man setzt auf eine freie Lohnregelung, befürchtet aber gleichzeitig ein Anziehen der Lohn-Preis- Spirale. Bei Großprojekten wie Nagymaros und Weltausstellung rechnet die Regierung mit Widerständen aus der Bevölkerung. Das Nein zum Regime - so Marosän — könnte viele andere Projekte zunichte machen.

Die Kommunisten wollen jedenfalls — so Marosän auf eine Anfrage der FURCHE — auf der Grundlage des „sozialistischen Wertesystems“ an der Spitze der Veränderungen in Ungarn stehen.

„Es gibt sehr wenige Unterschiede zwischen der USAP und den europäischen sozialdemokratischen Parteien, kaum Divergenzen zwischen USAP und österreichischer Sozialdemokratie“, meint Marosän, und den Vertreter des österreichischen KP-Organs „Volksstimme“ haut es fast vom Sessel.

Also, in welche Richtung geht die USAP? Allen Ernstes spricht Marosän sowohl vom Modell Margret Thatchers als auch Olof Palmes. „Uns ist natürlich Olof Palmes Richtung lieber.“

Bleibt der Eindruck, daß Ungarn momentan ein riesiger Debattierklub ist, ein einzigartiger Hydepark-Corner.

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