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„Ich bin für verschiedene Prozentsätze“

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FURCHE: Herr Bundespräsident, bald wird ein Jahr seit der Sicherheitskonferenz in Helsinki vergangen sein. Welchen Stellenwert messen Sie der Entspannungspolitik für Österreich bei?

KIRCHSCHLÄGER: Österreich ist an der Fortsetzung der Entspannungspolitik in sehr hohem Maße interessiert. Dieses Interesse ist nicht nur in Österreich gegeben, sondern es besteht auch dort, wo man dieser Politik zwar gegenwärtig einen anderen Namen gibt, sie aber doch fortzusetzen entschlossen ist. Die Entspannungspolitik im europäischen Bereich hat für Österreich ein erhöhtes Maß an Sicherheit gebracht. Vielleicht wird international gelegentlich der Irrtum begangen, zu meinen, daß sich mit den Unterschriften unter die Konferenzergebnisse von Helsinki schon die politische Situation in Europa oder die politische Situation zwischen den beiden Supermächten endgültig zum besseren geändert habe. Dem ist nicht so. Realistisch gesehen, scheint mir Helsinki ein Arbeitsprogramm zu sein, das in manchen Teilen zwischen manchen Staaten schon zum Zeitpunkt der Unterschrift erfüllt war — dies gilt für das Verhältnis Österreichs zu seinen Nachbarstaaten im weiten Sinne des Wortes —, und in anderen Teilen oder zwisehen anderen Staaten erst mühselig erfüllt werden muß.

Ich verstehe Helsinki daher auch als einen Ausgangspunkt für viele selbständige bilaterale Prozesse, für die Helsinki klimatische Voraussetzungen geschaffen hat.

FURCHE: Wolfgang Kraus hat geschrieben, Wien sei die westlichste Stadt des Ostens, nicht die östlichste Stadt des Westens. Viele Menschen meinen, daß Österreich eine Brük-kenfunktion habe. Wie könnten wir dieser Brückenfunktion noch besser gerecht werden?

KIRCHSCHLÄGER: Ich zögere, Wien und Österreich zu sehr mit einer Brückenfunktion zu belasten. Es könnte hiebei allzu leicht geschehen, daß Gesprächspartner oder auch Streitteile gar keine Brücke wollen oder keine benötigen, weil sie selbst sehr viele direkte Verbindungswege besitzen und dann Wien und Österreich die Nützlichkeit und Notwendigkeit ihrer Existenz verlören.

Wien soll weniger westlichste Stadt des Ostens oder östlichste Stadt des Westens sein, sondern ein Begegnungsplatz, ein Platz der Mitte, wo die Möglichkeit des Gespräches ohne Prestigeverlust für die eine und für die andere Seite gegeben ist. Ein Platz auch, wo zur Begegnung sich aufzuhalten aus geographischen, historischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Gründen nicht Spannung, sondern Entspannung bedeutet.

FURCHE: Oft wird geklagt, daß sich Österreich in der Welt nicht gut genug, nicht richtig darzustellen versuche. Es wird über die Zersplitterung der kulturellen Auslandsaktivitäten, mangelnde Koordination von Pressearbeit und Botschaften Klage geführt. Müßte man in dieser Richtung konkrete Maßnahmen ergreifen?

KIRCHSCHLÄGER: Ein Optimum unserer Selbstdarstellung ist sicher noch nicht erreicht. Wir müßten versuchen, uns nur so zu zeigen, wie wir wirklich sind. Wenn wir ein falsches, weil vielleicht idealisiertes Bild erwecken, bringt das auf weite

Sicht Schaden. Was will die Welt von dieser Republik Österreich wissen, in dieser geographischen Position, mit dieser historischen Vergangenheit und auch mit dem Volk, das hier lebt, mit dessen Fähigkeiten? Diese Antwort zu geben, scheint mir die erste Voraussetzung für eine richtige Imagebildung im Ausland zu sein. Können wir ein Begegnungsplatz sein? Können wir ein Land mit einer kulturellen Ausstrahlung sein, und zwar nicht einer Kultur als Schockwirkung, sondern mit einer Ausstrahlung, die den Menschen in anderen Ländern etwas zu sagen hat? Es interessiert im Ausland die Art, wie an unseren Schulen unterrichtet wird, wie wir an den Hohen Schulen den numerus clausus vermieden haben, wie wir die älteren Menschen behandeln, wie wir zwischen den Europäischen Gemeinschaften und dem COMECON unsere Wirtschaft auf internationalem Standard halten und der weltweiten Rezession begegnen, wie wir die Fragen der Sozialpartnerschaft lösen. Das sind Dinge, die interessieren. Und dazu kommt unsere Neutralitätspolitik oder die Frage, wie es, wenn man etwa die politische Zerrissenheit in anderen Ländern sieht, möglich ist, daß in Österreich absolute Mehrheiten entstehen konnten, zuerst der einen und dann der anderen Partei.

FURCHE: Also so etwas wie ein österreichisches Modell —politisches Verhalten auch als eine Art Exportartikel?

KIRCHSCHLÄGER: Ich glaube nicht, daß alle diese Dinge Exportartikel sein können; aber sicher sind es Gegebenheiten, die des Überlegens und Nachdenkens wert sind.

FURCHE: Halten Sie es für möglich, daß in Österreich nach 1945 ein Modell zur Konfliktüberwindung geboren wurde, das irgendeinmal für die Welt, für andere Länder interessant werden könnte?

KIRCHSCHLÄGER: Ein vielseitig anwendbares Modell kann wohl nur dort entstehen, wo auch die sachlichen Voraussetzungen dieselben sind. Daran scheint es mir zu mangeln. Daß aber den einzelnen Komponenten immer wieder sehr starkes Interesse entgegengebracht wird, merkt jeder Österreicher, der Gespräche mit internationalen Gesprächspartnern führt, die politische, wirtschaftliche oder soziale Verantwortung in ihren Ländern tragen.

FURCHE: Finden auch Sie, daß wir zwar in Österreich in den letzten Jahren zunehmend Patriotismus entwickelt haben, aber Leistungswille und Leistungsbereitschaft doch im Schwinden begriffen sind? Überlagert da nicht ein Wohlstandsegoismus das Zusammengehörigkeitsgefühl der Österreicher, vor allem dann, wenn es um die Verteidigung dieses Landes geht?

KIRCHSCHLÄGER: Es ist sicher so, daß Zeiten, die weniger Sorgen um die Existenz des einzelnen und des Landes mit sich bringen, dazu verleiten, sich weniger mit existen-ziellen Fragen zu befassen. Das ist nicht nur bei uns in Österreich so. Der volle Magen ist eben nicht sehr angetan, den Willen zu Opfern für die Gemeinschaft zu stärken, sondern eher etwas gleichgültig zu machen und vor allem nach Besitz und Bequemlichkeit zu suchen. Mir

scheint aber, daß diese Entwicklung in Österreich sicher nicht überdurchschnittlich ausgeprägt ist. Und ich bin davon überzeugt, daß wir dann, wenn eine schwierige Situation sich uns stellen würde, diese mit einem starken Engagement zu meistern imstande wären.

FURCHE: Sie haben sich bei Ihrem Amtsantritt dazu bekannt, den Schwachen, den Behinderten, überhaupt jeder Minderheit zu helfen. Eine Minderheit — nämlich die Slowenen in Kärnten — fürchtet ernsthaft, aufgesogen zu werden. Kann man durch Parteieneinigung die Vorstellungen einer Minderheit einfach

übergehen, kann man eine Vokszäh-lung gegen den Willen einer Minderheit wirklich durchführen?

KIRCHSCHLÄGER: Sicher haben Parteienvereinbarungen keine verbindliche Kraft. Das letzte Wort werden die Organe der Bundesge-setzgebung, also der Nationalrat und der Bundesrat, zu sprechen haben. Zur Sache selbst: Ich habe immer dafür plädiert, daß man in Auseinandersetzungen versuchen soll, beide Teile zu verstehen. Angewendet auf die gegenwärtige Auseinandersetzung bedeutet dies, daß auch auf die Anliegen der Minderheit in entsprechender Weise Rücksicht genommen werden soll. Es ist uns gelungen, über die schwierigen Zeiten der inneren Zerrissenheit in der Zwischenkriegszeit hinwegzukommen und ein unbestrittenes Selbstverständnis Österreichs zu erreichen. Damit ist doch auch die Voraussetzung für eine gewisse Großzügigkeit gegenüber den Minderheiten gegeben. Eine Großzügigkeit bei der Gewährung von Rechten an die Minderheit muß aber auch einem Geist der Zusammenarbeit von seiten der Minderheit entsprechen, auch wenn sie schwierig sein sollte.

Wir sind gegenwärtig wieder in einer Situation, in der die Wogen etwas höher gehen. Ich glaube, daß sich, wenn man sich am Geist der Großzügigkeit und des Miteinander orientiert, eine Lösung finden läßt. Es ist nun einmal, seit Durchfüh-rungsesetze zum Artikel 7 des Staatsvertrages gemacht wurden, vom österreichischen Nationalrat als dem gewählten Vertreter des österreichischen Volkes immer wieder darauf hingewiesen worden, daß eine Minderheitenfeststellung in irgendeiner Form erfolgen muß. Es hat darüber durch lange Zeit auch eine Kommission beraten, und sie hat versucht, Vorschläge zu machen. Mir persönlich scheint die Frage der Minderheitenfeststellung nicht diese große Dringlichkeit zu haben, die ihr auf der einen Seite zugemessen wird.

Aber sie scheint mir auch keineswegs so verteufelnswert, wie sie die Vertreter der Minderheit darstellen. Wir haben doch in den letzten 30 Jahren wirklich bewiesen, daß wir in der Lage sind, freie und geheime Wahlen abzuhalten. Es wird daher auch die Minderheitenfeststellung, wenn der Nationalrat eine solche beschließen sollte, frei und geheim sein.

Was die Prozentsätze für minder-heitsschützende und minderheits-fördernde Maßnahmen anbelangt, wiederhole ich mein Bekenntnis: ich bin für ein weitestgehendes Maß von Großzügigkeit, wobei ich mir allerdings vorstellen könnte, daß man

für verschiedene minderheitsschüt-zende Maßnahmen auch v e r sc h i e-dene Prozentsätze anwendet. Das heißt, daß man etwa bei den Ortstafeln die Dringlichkeit einer Aufschrift in der Muttersprache für nicht so wesentlich ansieht, wie Maßnahmen auf dem Schul- oder auf dem Gerichts- oder auf dem Sprachensektor im allgemeinen. Hier könnte ich mir sehr gut verschiedene Prozentsätze vorstellen, wobei diejenigen für andere als die Ortstafelfragen natürlich minderheitsfreundlicher sein sollten.

FURCHE: Die Minderheitenvertreter lehnen jede Feststellung nach dem Volkszählungsgesetz, wie das jetzt vonstatten gehen soll, ab. Halten Sie es für denkbar, eine solche Zählung trotzdem durchzuführen, ohne daß die Slowenen dabei mittun?

KIRCHSCHLÄGER: Mit dem strikten Ablehnen, also mit dem Geltendmachen einer Art von Veto-Recht, soll man vorsichtig sein. Selbst dort, wo das Veto-Recht zusteht, macht seine Ausübung nicht populär. Noch mehr gilt dies, wo ein Vetorecht gar nicht zusteht.

Ich will auch keine Erklärung abgeben, ob es für den Nationalrat zweckmäßig ist oder nicht, ein solches Gesetz zu beschließen. Unsere Bundesverfassung beruht darauf, daß jedes der drei höchsten Organe, Nationalrat, Bundesregierung und Bundespräsident, in ihrem Kompetenzbereich bleiben und nicht in den eines anderen Organes eingreifen oder einzugreifen versuchen. Daran will ich mich halten.

Zu dem angeblichen kategorischen Nein der Minderheit aber noch ein persönlicher Gedanke: Wäre es nicht klug, die gegenwärtig im Gang befindliche Diskussion zwischen Min-derheits- und. Mehrheitsvertretung dazu zu verwenden, um sich Gedanken über verschiedene im Staatsvertrag nicht enthaltene minder-heitsbewahrende Maßnahmen zu machen? Wir sind doch an einer Erhaltung der Minderheit als einer echten

Bereicherung des österreichischen Staatsvolkes interessiert. Nach meiner Erfahrung braucht eine Minderheit zu ihrer Selbstbehauptung mehr, oder zumindest wesentlich anderes als eine zweisprachige Ortstafel mehr oder weniger.

FURCHE: Also neuerliches Verhandeln bis zu einer wirklich einvernehmlichen Lösung?

KIRCHSCHLÄGER: Ja, soweit eine einvernehmliche Lösung möglich ist. Es wird sich allerdings jeder Gesetzgeber in der Welt letztlich das Gesetzgebungsrecht vorbehalten und sich nicht absolut verpflichten, nur sogenannte vorher paktierte Gesetze zu beschließen.

FURCHE: Sie aber würden in der gegenwärtigen Situation doch darauf Wert legen, daß noch einmal verhandelt wird?

KIRCHSCHLÄGER: Daß Gespräche stattfinden. Ich würde nicht unbedingt das Wort „Verhandeln“ gebrauchen.

FURCHE: Ist nicht zu befürchten, daß es hier zu einer gefährlichen chronischen Frustration einer Minderheit kommt, wenn deren Minimolansprüche nicht auf einen Nenner mit dem Maximum dessen, was ihr der souveräne, die Wünsche der Mehrheit repräsentierende Nationalrat zu bieten bereit ist, gebracht werden können?

KIRCHSCHLÄGER: Meine Meinung ist: Gerade die internationale Aufgabenstellung Österreichs, sein Selbstverständnis, Land der Mitte, Land des Verbindlichen und des Verbindenden zu sein, bedeutet auch ein Gebot, nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen. Es ist uns etwa im wirtschaftlichen Bereich durch die Sozialpartnerschaft gelungen, Fragen nicht so wie in anderen Ländern durch Streiks, sondern durch harte, mühselige Verhandlungen zu lösen, bei denen vielleicht manchmal der eine oder andere Partner aufsteht und den Tisch verläßt, aber doch weiß, daß er irgendwann wieder zurückkommen muß. Es müßte möglich sein, etwas Ähnliches wie die Sozialpartnerschaft auch in der Partnerschaft zwischen Minderheit und Mehrheit zu verwirklichen, wobei beide Seiten Vorurteile abbauen und miteinander im Gespräch bleiben müssen.

Mit Bundespräsident Rudolf Kirchschläger sprachen Hans Magenschab und Hellmut Butterweck.

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