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Ich wünsche Ihnen gute Feiertage

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Man sollte das Wort „trostlos“ mit dem Heiligen Abend nicht in Verbindung bringen. Was das Wetter betraf, so kam aber gar kein anderes Wort in Betracht. Nachdem es wochenlang ununterbrochen und vielversprechend geschneit hatte, setzte kurz vor dem Heiligen Abend ein sanfter heimtückischer Föhn ein.

Der weiß verschneite Marktflecken wurde zusehends kahler, nüchterner. Die schadhaften Stellen auf den Dächern waren wieder zu sehen, und die Schritte auf den nassen Straßen klangen wieder laut. Dieser sanfte Föhn, der sich so unaufdringlich aufdringlich benahm, hörte nicht auf, immer aus der gleichen Richtung zu wehen. Nur die Unentwegten hofften noch auf Schnee. Man begegnete kaum einem Menschen auf der Straße, und wen man traf, der hatte es eilig: der Christbaum, die Weihnachtsgeschenke, die Weihnachtsgans, die Weihnachtspost. Uberall fehlte Zeit. Um so befremdender mußte ein

Mann wirken, der mit langsamen Schritten daherkam. Er hatte ein Holzbein, aber auch mit einem Holzbein kann man schneller gehen. Es war deutlich zu sehen: der Mann wollte nicht. Er schien sich zu fragen: Wozu? Und ging langsam. Er hatte aber etwas im Sinn, das nicht leicht zu durchschauen war. Jeder Mensch, den er von weitem sah, schien wie ein Magnet auf ihn zu wirken. Er beschleunigte seinen Schritt, humpelte auf den Entgegenkommenden zu, beugte den Kopf ein wenig vor und sagte etwas. Er wartete, sekundenlang, dann setzte er seinen Weg fort. Der Angesprochene blieb regelmäßig stehen und sah dem Davonhinkenden erstaunt nach. Auch verblüfft, auch verärgert.

Keiner schien zu wissen, was er mit der Botschaft anfangen sollte. Wenn die Angesprochenen weitergingen, hatten sich ihre Schritte verändert. Sie setzten die Füße so vorsichtig auf, als wäre der Boden unsicher geworden.

Es war unvermeidlich, daß die Reihe auch an mich kam. Ich hätte, da ich alles beobachtet hatte, in einen Seitenweg einbiegen können. Aber ich wollte nicht. Ich sah dem langsam Näherhumpelnden mit einem Gemisch aus Neugier und Abneigung entgegen.

Der Mann war schlecht rasiert, schlecht gekleidet und schlecht gewaschen. Er roch auch nicht gut.

Sein graues Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an, als er mich entdeckte. Er steuerte auf mich zu. Ich blieb unwillkürlich stehen, als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war, und er schien erfreut darüber. In seine trüben Augen kam etwas wie ein Glanz. Sein Gesicht und seine ganze Haltung wurden feierlich. Er blieb auch stehen, beugte seinen Kopf zu mir und flüsterte: „Ich wünsche Ihnen gute Feiertage und viel Glück. Viel Glück.“

Ich war auf etwas Absonderliches vorbereitet. Darauf nicht. 'Was ich für ein Gesicht gemacht habe, weiß ich nicht. Ich starrte den Mann an, und er sah mich an. In diesem Augen-Blick entschied es sich. Ich hätte viel tun können, aber ich tat nichts. Noch bevor ich weiterging, las der Mann in meinen Augen, daß ich gegen ihn entschieden hatte. Er schlug die Augen nieder und drehte sich langsam um. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos.

Erst als er im Weiterhinken an der nächsten Straßenkreuzung wieder einen Menschen erspähte, kam jene Spannung in seine Gestalt, die ihn zu beflügeln schien. Er nahm Kurs auf die Straßenkreuzung, die der Fremde gerade überquerte. Noch einmal sah ich die gleiche Szene, in der ich eben selbst eine stumme Rolle gespielt hatte, dann war der Mann verschwunden.

Der heimtückische Föhn wehte noch immer. Ich lief nach Hause. Der Christbaum, die Weihnachtsgeschenke, die Weihnachtspost. Es fing an zu regnen. Hätte ich dem Mann die Hand geben sollen? Ja. Denn es war ja offensichtlich, daß er ganz allein war. Wer geht denn am Heiligen Abend durch die Straßen, um jedem, den er trifft, gute Feiertage und viel Glück zu wünschen?

Man sollte das Wort „trostlos“ mit dem Heiligen Abend nicht in Verbindung bringen. Und das Wetter trostlos zu nennen, weil der Schnee schmilzt, ist lächerlich genug. Zu Hause warteten die Kinder auf mich, die Familie. Ich lief schneller, aber in der falschen Richtung. Ich lief zurück. Die Vorübergehenden mußten denken, daß niemand es eiliger hatte, zu seinem Christbaum zu kommen als ich. Ich wußte, daß ich den Mann nicht wiederfinden würde, und ich fand ihn auch nicht.

Immer, wenn mir jemand gute Feiertage und viel Glück wünscht, fällt er mir wieder ein und ich weiß, daß ich damals versagt habe.

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