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Ihre Hoffnung hieß Wien

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Die zwischen 1867 und 1914 nach Wien zugezogenen Juden paßten sich an, veränderten sich, waren gute Österreicher, gaben aber ihre jüdische Identität nicht auf.

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Die zwischen 1867 und 1914 nach Wien zugezogenen Juden paßten sich an, veränderten sich, waren gute Österreicher, gaben aber ihre jüdische Identität nicht auf.

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Eine Untersuchung des demographischen Materials über die jüdische Zuwanderung und Assimilation in Wien wäre längst fällig gewesen. Ein größeres österreichisches Projekt zu diesem Thema stünde Wien gut an. Marsha L. Rozenblit, Professorin für Geschichte an der Universität von Maryland, hat uns einen Teil dieser Arbeit abgenommen. Ihre Studie „Die Juden Wiens 1867—1914; Assimilation und Identität“ ließe sich in vielen Punkten ergänzen, aber das Thema zählt eben nicht zu den Lieblingskindern der österreichischen Forschung.

Eine zweite Neuerscheinung stammt von Erwin A. Schmidl (bekannt durch das Buch „März 38: Der deutsche Einmarsch in Österreich“), der am Heeresgeschichtlichen Museum und im Militärhistorischen Dienst des Verteidigungsministeriums tätig ist. Angesichts der Ermordung zahl-

loser ehemaliger jüdischer Welt- krieg-I-Teilnehmer durch die Nazis war auch eine Geschichte der Juden in der alten österreichischen Armee längst fällig. Wenigstens dieser Aufgabe hat sich nun ein Österreicher unterzogen. „Juden in der k. (u.) k. Armee 1788—1918/Jews in the Habsburg Armed Forces“ erschien zweisprachig als wissenschaftliche Begleitpublikation zur neuen Ausstellung im österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt.

„Zweifellos“, so Marsha L. Rozenblit, „hatten zahlreiche Menschen jüdischer Herkunft am deutschen Kulturleben Anteil, aber es wäre verfehlt, die jüdische Assimilation an die europäische Gesellschaft nur, nach diesen Intellektuellen zu beurteilen.“

Die Geschichte der Juden in Wien reicht zwar, als eine Geschichte der Verfolgungen, Vertreibungen und dazwischen liberaler Perioden, ins frühe Mittelalter zurück. Aber die Judenheit Wiens der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg bestand zum größten Teil aus Zuwanderem oder Nachkommen von Zuwanderern, die nach der Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Unterschied der Religion in der Verfassung von 1867 nach Wien gekommen waren.

Sie waren nur ein Teil der vielen in die Großstadt strömenden Menschen, die um 1900 die Einwohnerzahl von Wien über die Zwei-Millionen-Grenze schnellen ließen. Es hatte auch schon 1848, als sich zahlreiche Juden an der Revolution beteiligten, antisemitische Aufstöße gegeben. Aber zur mörderischen Virulenz des Wiener Antisemitismus um 1900 und in der Zwischenkriegszeit trug sicher auch das Konkurrenzverhalten anderer Einwanderergruppen gegenüber den Juden bei. Vermutlich haben sie nicht nur den bodenständigen Antisemitismus verstärkt, sondern im Zurschautragen antisemitischer Haltungen eine Chance gesehen, sich selbst „bodenständig“ zu profilieren und ihre eigene Assimilation zu fördern. 175.318 Juden wurden 1910 in Wien gezählt. Die Zahl der nichtjüdischen Zuzügler aus Böhmen und Mähren war vermutlich größer, der Antisemitismus mag zu ihren Strategien gehört haben, Aggressionen von sich abzulenken.

In der alten österreichischen Armee hat der Antisemitismus hingegen keine annähernd so bedeutende Rolle gespielt wie in der Politik, dies weist Schmidl überzeugend nach. Aber er weist auch auf die antisemitische Haltung mehrerer hochgestellter Persönlichkeiten, etwa des Thronfolgers Franz Ferdinand, hin. Seit 1788 wurden auch Juden zum Wehrdienst herangezogen. Sie hatten lange Zeit gegen Vorurteile zu kämpfen, als erster jüdischer Offizier Österreichs kommt Maximilian Arnstein in Frage, der vor 1805 in die Armee eintrat, 1805 von den Franzosen gefangengenommen und später Fähnrich im Infanterie-Regiment No. 63 wurde und am 24. Dezember 18Ubei Kolmar fiel. Er soll nach jüdischem Ritus bestattet worden sein.

Marsha Rozenblit stellt ihren Blick auf die jüdischen Zuwanderer scharf. Sie benützt für bestimmte Stichprobenjahre die jüdischen Heiratsregister, die Steuerverzeichnisse der Israelitischen Kultusgemeinde, Unterlagen von Wiener Schulen und andere Quellen. Während die nichtjüdischen Zuwanderer überwiegend aus der Agrarbevölkerung stammten, hatten die jüdischen meist bereits in Klein- und Mittelständen gelebt und konnten sich daher leichter an die Großstadtverhältnisse anpassen. Eine Zuordnung der Geburtsjahre und -orte in Wien lebender Juden zu verschiedenen Zeiten ergab drei einander überlappende Einwanderungswellen.

Die ersten im vorigen Jahrhundert in die Stadt gekommenen Juden waren Inhaber kaiserlicher Toleranzpatente aus Böhmen und Mähren. Sie wurden in den fünfziger und sechziger Jahren von der zweiten großen Zuwanderungswelle aus Ungarn „überrollt“. Die dritte große Zuwanderungswelle kam aus Galizien und ergoß sich vorwiegend erst in den letzten beiden Dezennien vor dem Ersten Weltkrieg in die Reichshaupt- und Residenzstadt.

Da die Gründe zur Übersiedlung nach Wien bei Juden und Nichtjuden verschieden waren, waren es auch ihre Herkunftsgebiete. Von den Tschechen in Wien stammten fast keine aus Prag — hingegen ein Fünftel bis ein Drittel der aus Böhmen stammenden Wiener Juden. 70 Prozent der nichtjüdischen böhmischen Zuwanderer kamen aus Südböhmen, weil dort die Taglöhner am schlechtesten bezahlt wurden. Von den jüdischen Zuwanderern stamme ein kaum halb so großer Anteil aus diesem Gebiet.

Was lockte die Juden nach Wien? Einer der wichtigsten Gründe sei gewesen, daß die Aufhebung der alten Verbote und Beschränkungen bezüglich Ansiedlung und Berufswahl auf die Juden die Wirkung eines Signals hatte. Wien bot nicht nur wirtschaftliche, kulturelle und bildungsmäßige Chancen und größeres Prestige, sondern auch die Hoffnung, in der Großstadt dem provinziellen Antisemitismus zu entkommen.

In Mähren etwa hatten Heiratsedikte gegolten, die oft nur dem ältesten Sohn die Ehe gestatteten - und dies erst nach dem Tod des Vaters (!). Franz I. hatte 1798 die Juden in Mähren auf 5.400 Familien in 52 Judengemeinden beschränkt und ihnen die Ansiedlung in den freien Reichsstädten verboten. Nun fielen die alten Beschränkungen - dafür kamen neue Pressionen. Im Zeichen des erstarkenden Nationalismus wollte man die jüdischen Händlerschichten durch einen tschechischen, ungarischen, slowakischen, polnischen Mittelstand ersetzen. Der alte Antisemitismus und der neue Nationalismus marschierten Hand in Hand. Wirtschaftliche Dauerkrisen beschnitten die Existenzmöglichkeiten des Mittelstandes, ob jüdisch oder national. Der Antisemitismus schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Er lenkte von den Ursachen der Probleme ab — und vertrieb die Juden.

Für das Schicksal der Zuwanderer in Wien ist der Industrielle sowenig typisch wie der Intellektuelle oder Freiberufler. Eine sehr große Zahl wechselte hingegen vom Händlerberuf in unselbständige Positionen, meist als Angestellte in Handel, Industrie, Versicherungswesen, Banken und so weiter. Die Geschichte der Wiener Juden ist eine Erfolgsgeschichte, auch Marsha L. Rozenblit weist dies eindeutig nach. Die Antisemiten blickten neidisch auf diesen Erfolg - und ihre Anführer ignorierten geflissentlich die Tatsache, daß die jüdischen Zuwanderer ja nicht nur Konkurrenten, sondern auch Konsumenten waren. Wäre der Antisemitismus keine so verlockende agitatorische Marktnische gewesen, wäre man zum nüchternen Nachrechnen bereit gewesen, hätte sich wohl bald herausgestellt, daß die Juden so viel zur Prosperität der Stadt vor dem Ersten Weltkrieg beitrugen, daß es ihre Rolle als Konkurrenten neben der als Motor des Wirtschaftswachstums aufwog. ,

Während die typische Erfolgsstory des jüdischen Einwanderers in New York die des armen

Schneiders ist, der (oder dessen Sohn) Unternehmer wird, ist es in Wien die des Aufstieges vom selbständigen, aber armen Händler zum gutsituierten Unselbständigen: „Angestellter bei einer Privatfirma war zu einem jüdischen Beruf geworden“ schreibt Marsha Rozenblit. Aber der Erfolg der jüdischen Einwanderer stand „im scharfen Gegensatz zum Fehlen jeder Änderung im sozialen Status der Wiener während des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts im allgemeinen. Wie die meisten europäischen Städte und ganz anders als viele amerikanische, bot Wien seinen Einwohnern wenig Möglichkeit zu gesellschaftlichem Aufstieg.“

Das Geheimnis der Juden hier wie dort: höheres Einstiegsniveau in den Arbeitsmarkt, leistungs- fördemde sittliche Werte, ethnischer Zusammenhalt mit Unterstützungssystem, Vertrautheit mit städtischen Lebensformen und Berufen. Ein wichtiger Erfolgsfaktor: die Bereitschaft, in die Bildung der Kinder zu investieren. Während sonst fast nur Söhne von Wienern mit entsprechendem Status Gymnasien besuchten - um in die Fußstapfen der Väter treten zu können —, brachten viele arme Juden große Opfer, um den Söhnen den Gymnasialbesuch zu ermöglichen.

Marsha Rozenblit gelangt zu dem Ergebnis, daß die jüdischen Einwanderer in Wien — wie anderswo - sich kulturell an die Umgebung anpaßten und das Kulturverständnis sowie den Lebensstil ihrer Umgebung übernahmen, dies aber in Gemeinschaft mit anderen Juden taten und so „dem gesamten Vorgang der Assimilation eine besondere jüdische Note verliehen“. Indem sie - auch in den „bürgerlichen“ Bezirken — gemeinsame Wohngebiete bevorzugten, hauptsächlich miteinander verkehrten und untereinander heirateten, vermieden sie ihr Verschwinden als identifizierbare ethnische Gruppe. Sie kämpften um Akzeptanz, die ihnen von den Antisemiten verbissen verwehrt wurde. Bis zum Ende des Habsburgerreiches waren sie „ohne Zweifel Deutsch-Österreicher, die sich gleichzeitig unbeirrbar ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volkstum bewußt waren“.

Im Ersten Weltkrieg meinten viele, durch besondere Tapferkeit die Judengegner von ihrer Haltung abbringen zu können. Bei Erwin Schmidl kann man nachle- sen: Die Zahl der im Ersten Weltkrieg an der Front gefallenen jüdischen österreichischen Offiziere wird auf tausend geschätzt, aus einzelnen Verlustlisten wurde ein Prozentsatz von 6,78 Prozent aller gefallenen Offiziere errechnet. Jeder zweite jüdische Berufsoffizier und 7,22 Prozent der Reserveoffiziere trugen Tapferkeits-Auszeichnungen. Dem österreichischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit konnte dies nichts anhaben.

DIE JUDEN WIENS 1867-1914 - ASSIMILATION UND IDENTITÄT. Von Marsha L. Rozenblit. Böhlau Verlag, Wien 1989.256 Seiten, Pb., öS 476,-.

JUDEN IN DER K. (U.) K. ARMEE/JEWS IN THE HABSBURG ARMED FORCES. Studia Judaica Austriaca XI. Von Erwin A. Schmidl. 238 Seiten, Bilder, Pb.

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