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Ikaros

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Sie wußte, daß sie ein kleines Mädchen gewesen war, vor kurzem noch. Sie erinnerte sich daran, daß es nicht lang her war, daß sie die Großmutter hätte besuchen sollen, daß die Mutter ihr die Haare eingedreht und sie in das selbstgenähte weiße Kleid gesteckt hatte, daß sie dann, als eine Nachricht für den Bruder hätte zurückgelassen werden sollen, auf einem Blatt ihm hatte aufschreiben müssen, wohin sie und die Mutter gegangen waren, daß sie dann Tinte über ihr Kleid vergossen hatte und daß der Sonntag traurig und überflüssig verging, beängstigende Zeit, die zu keiner Freude verhalf, weil sie zu Hause bleiben mußte, denn es gab kein zweites gutes Kleid, und sosehr die Mutter sich mühte, das fleckige auszuwaschen, es gelang nicht.

Und von draußen schien die Sonne schräg herein in den Lichtschacht des grbßen Hauses, Abortfenster über Abortfenster, dieselbe Sonne, die jetzt im winzigen Garten der Großmutter schien, in einen armseligen Garten und auf eine enttäuschte Großmutter und auf einen leeren Sonntag auch dort draußen, wo ein paar blaue Pflaumen nutzlos und un-gepflückt hingen und der Weg auf Schritte wartete, die nicht kamen, weil die Füße in den weißen Strümpfen auf dem Steinboden des Aborts standen und sie selbst, auf das schmale Fensterbrett gestützt, hineinschaute in den Schacht mit den blätternden grauen und gelben und braunen Wänden, auf dem die Schatten des hohen Daches und der Schornsteine wanderten.

Sie wußte gewiß, daß sie ein kleines Mädchen gewesen war, vor kurzem noch, und daß sie jetzt kein kleines Mädchen mehr sein wollte.

Sie hatte ihn in der Tanzschule kennen gelernt, er hatte, wie es sein mußte, den Arm um sie gelegt, das war zuerst erschreckend, dann die Hand auf ihr Schulterblatt gepreßt, das war lächerlich, denn seine Hand steckte in einem weißen Zwirnhandschuh. Aber dann in der Pause zog er die weißen Zwirnhandschuhe aus und sie sah, daß er schöne Hände hatte und gar nicht schwitzte, und sie lachten beide, sie berührten sogar prüfend ihre Hände, und von diesem Augenblick an hatte sie gewußt, daß sie kein kleines Mädchen mehr sein konnte.

Und vor allem kein Mädchen, das allein an einem schmutzigen Milchglasfenster steht, während das Licht über die Mauern im Schacht kriecht, das Licht, das auch auf ihn schien, auf seine braunen Hände und seine lustigen Augen und seine breiten Schultern und in den großen Garten des Hauses, in dem er mit seinen Eltern wohnte, weit draußen, wo die Stadt nicht mehr so lärmte und es nicht so viele beängstigende Menschen gab wie herinnen bei ihr.

Er schrieb:

Kannst Du am Freitag nachmittag herauskommen? Ich bin allein und es sind jetzt so schöne warme und lange Abende, ich bin gestern bis Mitternacht heraußen gesessen und habe an Dich gedacht, an Deine Wangen und Lippen, und ich möchte Deine Haare sehen, denn es ist gar nicht finster in diesen hellen Nächten, es fällt Licht durch den Birnbaum auf unsere Gartenbank. Am Freitag ist fast Vollmond, ich hab im Kalender nachgeschaut...

Sie saß nicht auf ihrem Bett, als sie -seinen Brief las, sie flog. Sie flog auch, als sie, eine Braut, das weiße Kleid anzog, das zwar wieder in Ordnung gebracht, aber jetzt schon ein wenig kurz war, wie ein Brautkleid trotz allem, sie flog, als sie ihre Lippen ein wenig mit dem Stift anstrich und ihr Haar ordnete, und sie flog erst recht, als sie endlich die vielen Stufen des Hauses hinunter und an Tür und Tür und Tür vorbei sich abwärts schraubte im Schacht des engen Stiegenhauses und durch das Tor hinaus und über den Gehsteig rannte, wo sie fast über ein paar Kinder stolperte, die hier im Sand spielten, und ein paar Erwachsene fast niederrannte, die ihr ärgerlich nachschauten wie sie, schon wieder mit wehendem Haar, sie konnte es nie lange in Ordnung halten, auf die Straße hinauslief und hinein in das Geschiebe, als gebe es jetzt um sechs Uhr abends keinen Verkehr, der aber dichter war als sonst je am Tag, und die Erwachsenen schüttelten die Köpfe über die Jugend, wendeten sich wieder ihren Geschäften zu, holten ihre Zigaretten, brachten ihre Aktenmappen nach Hause, gingen in die Wirtshäuser oder zu ihren Frauen oder zu ihrer Kartenpartie und hatten alle sehr Wichtiges zu tun.

Sie flog, als sie die Straße querte, ein weißes Huschen vor Motorhauben, sie hörte im Flug das Pfeifen der gebremsten Räder nicht, nicht die Rufe der Lenker, die es eilig hatten, ihre grüne Welle nicht zu verlassen, sie flog auf den großen schweren Straßenbahnwagen zu, der eben anfahren wollte, den Wagen, der sie hinausbringen sollte unter den Birnbaum im Licht, und sie sah, in einer Hand das billige Täschchen aus Kunstleder, in der anderen das abgezählte Fahrgeld, den Gegenzug nicht, der hier noch schnell fuhr, weil seine Haltestelle weiter drüben lag, und der sie packte wie ein großer Raubvogel im Flug einen kleinen weißen Vogel packt, der sich zusammenkrümmt, flattert, und von dem breiten Maul des Raubvogels aufgeschaufelt wird und drin verschwindet.

Sie reiste in der falschen Richtung, sie ließ es ruhig geschehen, daß der Wagen hielt und abfuhr, Kiesel streute und knirschend bremste, abfuhr, anhielt und auf der Endstation wendete, um seine Fahrt von neuem zu beginnen, in der linken Hand das

Täschchen mit dem Brief... es fällt Licht durch den Birnbaum auf unsere Gartenbank... und in der rechten das abgezählte Geld für die Fahrt, sie reiste weiß und schmal in dem Maul des kräftigen Motorwagens, das kurze Kleid wie unanständig hochgerutscht bis zu den halben Oberschenkeln, über die Strümpfe hinauf, ungesehen, unbeachtet, hinabgesunken auf den Grund des röhrenden Stroms von Stahlrädern auf Stahlschienen, von Gummirädern auf Asphalt, von dröhnenden Auspuffrohren mit blauen Blitzen von Fehlzündungen, einem Meer von Metall und Glas und Gasen, in dem rasche Blicke zuckten, von Straßenbahnfenster zu Autofenster, vom Lenkrad zur Plattform: ein Mann - was für ein Mann! - vorbei - die Frau dort in dem Wagen! - grünes Licht - vorbei, sie reiste still in dieser Welle von Motoren und Gedanken in den Gehirnen der Menschen: Den Steuerberater fragen, ob ich nicht einen neuen Wagen kaufen sollte.

Wenn mir Bergmann auf diesen Trick hereinfällt, bekomm ich den Posten von Hanser. Südafrika wäre der neue Markt für Kunststofftextilien. Verdammt, diese Gans hätte doch aufpassen können, ich hab ihr die Tabelle hundertmal erklärt. Wieviele Satelliten umkreisen uns schon? Der Kerl vorhin, ob das der entflohene Triebverbrecher war? Man sollte eine reiche Frau heiraten oder wenigstens Volkswagenhändler werden. Weg mit der Zigarette, sie fördert den Krebs. Die neuen Goldminen in Südafrika. Wohin jetzt, Moorbad oder Schwefel? Das fünfte Kind kostet nichts, die Familienbeihilfe ist größer als die Spesen. Singt der Napoleon der Chancons im Zweiten oder Dritten Programm? Entziehung durch Heilschlaf und Hypnose.

Ach was, ich schenk ihr die Kamera und sie soll den Mund halten. Rascher Aufstieg durch Heimkurse. Wohin, Kanarische Inseln oder Saloniki. Sex im Betrieb. Auf dem Photomarkt hat der Kampf begonnen. Unfug, diese Studentenehen. Fünfunddreißig neue Kulturpreise ausgeschrieben. Wenn's gelingt, hab' ich die Majorität. Astrologie und Aberglaube. Eine schönere Jugend mit dem neuen Tiger 2000. Die Kronprinzessin verliebt? Das neue Betriebsgefühl durch Datenverarbeitung. Reisen wir heute, zahlen wir morgen...

Sie reiste die ganze Zeit mit, weiß und schmal, unentdeckt, der Flug vergessen in der Schutzvorrichtung, von Endstation zu Endstation, immer wieder, und zum Schluß im verstummenden Lärm der Stadt, die letzte Fahrt schon über die leeren Straßen mit den vielen Monden der hohen Lampen, und endlich, bereits kühl, ohne Blut, das weiße Brautkleid nur wenig beschmutzt, der nackte Oberschenkel blaß, reiste sie in die Remise ein, wo der Fahrer den Hebel knackend auf Null stellte, die Druckluftbremse zum letztenmal ausseufzen ließ und die Handbremse festzog, die Lederschlaufe über die Kurbel warf und müde, mit sausenden Ohren, vom Führersitz stieg und wie gewöhnlich noch auf den Remisenmeister zuging, der den Motorwagen zu übernehmen hatte.

Der Remisenmeister, die Kappe ins Genick geschoben, das Hemd locker über der blauen Hose, den Bauch eingezogen, die Schultern vorgereckt, starrte wortlos auf die Wagenfront. Der Fahrer trat zu ihm, sah prüfend nochmals auf Scheinwerfer, Trittbrett, und entdeckte endlich ganz vorne, unten, den blassen kindlichen Arm, grau vom Staub und wie aus Stein, Arm einer Statue, die Hand zur winzigen Faust geschlossen, jetzt noch, in der Ruhe der Remise und des Herzens, die Münzen für die Fahrt fest zwischen den Fingern.

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