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Im Abstand von 20 Jahren

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Was bedeuten 20 Jahre Abstand? Für den Wandel der Gestirne ein schier unmeßbares Teilchen einer göttlichen Sekunde. Für den Lauf des humanen Lebens eine respektable Größe der Entwicklung: vom Lallen der Unmündigen zum Entscheidungswort des Mannes. Für die Metamorphosen der Herzen und Gewissen aber dünken zwanzig Jahre eine Ewigkeit. Allzumal der Weltenwandel stimuliert. Am 9. Oktober jährt sich der 20. Todestag eines Papstes, der im „Zerrbild“ der Geschichte steht: Pius XII., der als Eugenio Pacelli den Thron St. Petri 1939 bestiegen hatte.

Der Verdächtigungen und Apotheosen mangelt es seit diesem säkularen Sterbetag wohl nicht. Der verschämten Versuche, zurechtzurücken und zu deuteln, zu retten oder zu verdammen, lauthals zu preisen und hintergründig den Stab zu brechen, gab es viele. Sie füllen die Literatur der Bühnen, der Kommentare, der polarisierenden Debatten, der Leitartikler und der geschichtstheologischen Mediatoren. Die einen orten den Pacelli-Papst im Herzen der ungetrübten Sonne: besten Sinnes zimmern sie an seiner Absolutheit im Geltungsanspruch des Petrusamtes, meißeln an einer unübertrefflichen Profilierung des Charakterbildes in der Geschichte, den „Pastor angelicus“, als gestoppten Augenblick der Weltkirchenhistorie, über dessen Vergangenheit es nur zu trauern gilt. Oder, in der Sprache des Volkes gesagt: Was nachkommt, kann nur zum Abstieg führen.

Die anderen kumulieren Halbwahrheiten mit Unwahrheiten, Verleumdungen mit Lügen, Unterstellungen mit Phantasien. Das „So hätte es gewesen sein können“ wird zum „So war es wirklich“. Sie malen ihr Feindbild aus Ignoranz und Unverstand; es sind die Ärmeren. Die anderen führen den Pinsel wider besseres Wissen; es sind die Hintergründigen und Ferngesteuerten, die von Gestern reden und damit das Morgen manipulieren. Sie vertauschen durch den Trick des Zwielichts Klugheit mit Ein-sichtslosigkeit, Festigkeit mit Starrheit, Erhabenheit mit Dünkel, Heüigkeit mit weltfremd-pathetischem Pietismus. Und daran knüpfen sich Konkretisierungen: bei den Geschichtskütterern des Rolf Hochhuth, bei den postkonziliaren Barrikadenstürmen im Reiche Gottes, bei den Improvisationsakrobaten, die Ordnung und Recht aus der Hürde Christi verdrängen.

Wie war er wirklich: Papst Pius XII.?

Nach dem Zweiten Weltkrieg sang man in deutschen und österreichischen Landen eine „Papsthymne“. Hymnen verführen zu Mißdeutungen, weil kritische Momente ihren Texten fremd bleiben müssen. Aber sie scheinen unüberbietbar an symbolträchtiger Klarheit. Die zitierte Papsthymne war ein Zeichen. Sie wies auf den Sinn der Tiara. Auf die trialistische Bedeutung des dreifachen Kronreifs und auf den Text der abgelegten Krönungsformel. Adaptiert man die literarische Weise dieses Hochgesangs, so rückt man Pius XII. in die Mitte der Geschichte, seiner ureigenen Geschichte und gewinnt Zugang zum Verstehen.

„Der du die Fackel der Wahrheit trägst.“ Pius XII. deutet auf den ersten Reif der Tiara als jenen des Lehrers. Sein Pontifikat birgt eine schier unübersehbare Fülle von Enuntiationen des Lehramtes auf der weiten Rangskala des dogmatischen und pastoralen Stellenwertes. Er interpretierte den Rang des Völkergemeinwohls der NATO ebenso wie das Officium der Pharmazeuten und Müllabfuhrleute. Er dogmatisierte die leibliche und seelische Aufnahme der Gottesmutter „ex cathedra“ und proklamierte am Heiligabend 1944 die „Christliche Demokratie“ als menschwürdigste unter allen Regierungsformen für die Epoche nach dem Weltenbrand.

„Der du des Heilands Herde pflegst.“ Pius XII. deutet auf den

zweiten Reif der Tiara als jenen des Hirten. Die schmerzliche Not, die aus der Konfrontation des gottlosen Nationalsozialismus mit dem militant atheistischen Marxismus-Leninismus erwuchs, überlagerte das verwirrte und geschundene Europa, entzündete den Erdball. Verfolgung, Folter, Morde in Millionen. Dazwischen das Schifflein Petri in seiner Entblößung von aller irdischen Macht zu steuern, während Stalin nach den Divisionen des Papstes forscht und Adolf Hitlers Zynismus vor qualmenden Gasöfen dem Apostolischen Nuntius in der Reichshauptstadt huldigt. Ideologien, Indoktrinationen, Katakomben, Abfall, Verrat, aber auch Blutzeugnis von Maximilian Kolbe und Edith Stein. Er suchte Schafe zu retten, ohne Lämmer zu gefährden, dem Einen, dem Verlorenen, nachzugehen, ohne die Herde aus dem Blickfeld zu verlieren.

„Der du mit nimmermüder Hand hebest das Kreuz über Meer und

Land.“ Pius XII. deutet auf den dritten Reif der Tiara als jenen des Hohenpriesters. Er war ein Sum-mus Pontifex, ein oberst-verant-wortlicher Brückenbauer, der sein priesterliches Architektenamt nach dem Herzen Jesu, nach dem Herzen Mariae zu versehen sucht. Die Fülle der Eucharistie, das Pleroma des Gotteswortes, die Gnade aus den Sakramenten, In diesem Sinne verstand sich der Pacelli-Papst als Bote, als feinsinniger Geistesdiplomat der Frohen Botschaft, auch als Vikar des Königs aller Könige.

Die Herrlichkeit der Welt ist für den Nachfolger Pius' X. und Pius' XI. vergangen. Die Erwählung dieses für einen verständnislosen Globus provokanten Namens programmierte - um dieses unpiani-sche Wort zu gebrauchen - Eugenio Pacelli: zu einem hohenpriesterlichen Leben in Glaubenstreue, voller Hoffnung, glühend in Liebe wie Giuseppe Sarto, der Heilige unter den Lagunenpäpsten. Und zu einem wachenden Wächteramt um der gesellschaftlichen Ordnung wüten im umbrechenden Chaos und anarchisierenden Wetterleuchten wie Achille Ratti, der geistvolle Denker und weise Hausherr der Ambrosiana von ehedem, der Papst, der die erste Hälfte des Jahrhunderts geprägt hat.

Wo liegt also der pianische Ort? Wo siedeln wir ihn an, den Zwölften unter den Trägern des Namens der „Gottverbundenen“, der „Frommen“? In der Erscheinungen Flucht mit ihrer verwirrenden Fülle, der sein Pontifikat begegnete? In der Diplomatie, der Wissenschaft, der Politik, der Seelsorge, im Strahlungsbereich des päpstlichen Weltgewissens? Doch am ehesten bei Cäsarea Philippi. Und am Vatikanischen Hügel des ersten Jahrhunderts Jesu Christi. Im jubelnden Chor derer, denen der Schleier genommen, deren Glaube in Schauen, deren Erwartung in Erfüllung übergehen durfte. Im Lichte des Ewigen. Aber das werden die Hochhuths niemals begreifen.

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