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Im Anfang war der Sinn

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Weltweit zeichnet man ihn aus und stürmt seine Vorträge. Der große Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, wurde am 26. März 80 Jahre alt.

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Weltweit zeichnet man ihn aus und stürmt seine Vorträge. Der große Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, wurde am 26. März 80 Jahre alt.

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Franz Kreuzer stellte in dem Gespräch, das er im „Nachtstudio” des ORF mit Viktor E. Frankl führte,* sehr bezeichnend fest, „wo immer man auf den fünf Kontinenten dieser Erde unter halbwegs informierten Laien den Namen Frankl nennt, bekommt man mit ziemlicher Sicherheit als Gedankenverbindung den Begriff ,Sinn”\ Und er fragt hierauf, wie es Frankl gelungen sei, diese eindeutige Definition seiner Lehre mit dieser „laserstrahlartigen Konzentration” über die ganze Welt zu verbreiten.

Frankl gibt darauf zu bedenken, daß dieses System langsam, im Laufe von Jahrzehnten, entwik-kelt worden ist, und es sei nun so, daß man sich fragen müsse: „Woran leidet die Menschheit, woran leidet der durchschnittliche Mensch im Alltag heute am meisten? Leidet er noch so sehr unter den Folgen ödipaler Situationen? Leidet er heute noch so sehr unter den Nachwirkungen von Minderwertigkeitsgefühlen?” Da komme man doch wohl darauf: „Nein - heute und immer mehr hat sich generell ein Sinnlosigkeitsgefühl des durchschnittlichen Menschen bemächtigt.” Und in dieser Situation könne eine sinnorientierte, ja sinnzentrierte Psychotherapie wie die Logotherapie - Logos heißt ja Sinn in diesem Zusammenhang — unter Umständen sehr ins Spiel kommen.

Die Psychotherapie ist ohne Zweifel seit langem unausweichlich mit einer „Pathologie des Zeitgeistes” (Frankl) konfrontiert. Das registriert selbst der Psychoanalytiker Erich Fromm in seiner „Analytischen Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie” (Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1970) und spricht deshalb auch unumwunden von einer aus dieser Zeitsituation resultierenden „Krise der Psycholanalyse”: „In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist das Problem nicht mehr die sexuelle Verdrängung... In der Gesellschaft der Gegenwart sind es andere Triebe, die unterdrückt werden — ein erfülltes Leben zu leben, frei zu sein und zu lieben.” Es gebe in der Tat genügend Hinweise dafür, daß wir uns in einer ernsten Krise befinden, die nicht so sehr eine wirtschaftliche als vielmehr eine menschliche Krise ist.

Wie steht es nun hinsichtlich der Reaktion auf die erwähnte Zeitsituation mit der Individu-alpsychologie Alfred Adlers? Während Manes Sperber auf dem 15. Kongreß der Internationalen Vereinigung für Individualpsy-chologie (Wien 1982) die Uberzeugung zum Ausdruck bringt, daß die existentielle Problematik mit der Frage nach dem Sinn des Glücks die neuen Generationen beunruhigt und stets vordringlicher werden wird, somit also auf den notwendigen Akzentwechsel individualpsychologischer Thematik aufmerksam macht, glaubt Erwin Ringel einige Jahre vorher noch (auf dem 13. Kongreß derselben Vereinigung in München 1976) betonen zu müssen, daß man immer wieder irrigerweise die Einführung des „Sinnbereichs” in die Tiefenpsychologie für eine Pioniertat Jungs halte oder gar Frankl damit in Verbindung bringe, statt in diesem Zusammenhang an Adler zu denken.

Frankl hat sich selbst mit gutem Grund gegen die Meinung gewandt, die Logotherapie sei bloß „Adlersche Psychologie auf bestem Niveau”, und es gebe daher keinen Anlaß, sie als eine Forschungsrichtung sui generis auszugeben. Zuletzt macht Frankl gerade auf dem erwähnten Kongreß in Wien deutlich, was der Unterschied zwischen Lebensziel und Lebenssinn ist, was der Unterschied ist zwischen der Finali-tät, von der Individualpsycholo-gie so viel spricht, also der Zielstrebigkeit, und der von der Logotherapie hypothetisierten Sinn-orientiertheit.

Nach der bereits angeführten Äußerung Manes Sperbers über die gegenwärtige „existentielle Problematik” ist es keineswegs mehr überraschend, daß sich dieser namhafte Vertreter der Indi-vidualpsychologie schon in seinem Buch „Alfred Adler oder das Elend der Psychologie” (Molden, Wien-München-Zürich 1970) zu der Gültigkeit der philosophischen Frage nach dem Sinn unseres Tun, unseres Leidens und unseres Strebens bekennt.

Noch im Leiden Sinn

Er klärt uns aber hier auch unmißverständlich über jenen entscheidenden Punkt auf: .Adler und die meisten großen Psychologen unserer Zeit haben die philosophische Essenz dieser Frage verkannt, haben vielmehr vorgezogen, sie zu verkennen; vielleicht hatten sie recht. Doch ist es bemerkenswert, daß ein Psychiater, der vor vierzig Jahren zu den begabtesten unter Adlers jungen Schülern gehörte, daß der Wiener Viktor E. Frankl, der durch die Hölle der Konzentrationslager gegangen ist, die von ihm so genannte Logotherapie begründet hat, die dem Patienten helfen soll, den Sinn des Lebens zu finden, und ihn jedenfalls ermutigt, ihn zu finden.”

Dann jedoch fragt Sperber: „Wenn es ihn aber überhaupt nicht gibt? Nun, es mag bereits einem Dasein viel Sinn verleihen, ihn zu suchen, als ob es ihn gäbe ...”

Das eben ist die .Pioniertat”

Franklsi Er behauptet als Logotherapeut zwar nicht, einem Kranken sagen zu können, was der Sinn ist, sehr wohl aber, daß das Leben einen Sinn hat, ja, mehr als dies (wie er wiederholt betont): „daß es diesen Sinn auch behält, unter allen Bedingungen und Umständen, und zwar dank der Möglichkeit, noch im Leiden einen Sinn zu finden.”

Nicht nur philosophisch, sondern auch psychologisch und phänomenologisch liefert er den Nachweis, daß der Mensch in seiner Sinnsuche genauso wie in seiner Wahrheitssuche auf Objektivität von so etwas wie Sinn und Wahrheit ausgerichtet ist. Im Gegensatz zu den Menschenbildern, nach denen es entweder um die Abreaktion von Trieben, im psychodynamischen Sinne, oder um die Reaktion auf Reize, im beha-vioristischen Sinn, geht, gilt für Frankl, was er in jenem Gespräch mit Franz Kreuzer so erläutert: „In Wirklichkeit liegt es im Wesen des Menschseins, daß es sich selbst transzendiert, daß es mir um etwas geht in meinem Leben, was nicht wiederum ich selbst bin — um etwas oder um jemanden: um eine Sache oder um eine andere Person.”

Das Thema, das sich wie ein roter Faden durch alle Arbeiten Frankls zieht, ist die Aufhellung des Grenzgebietes, das sich zwischen Psychotherapie und Philosophie erstreckt, unter besonderer Berücksichtigung der Sinn-und Wertproblematik der Psychotherapie. In der autobiographischen Skizze, die in dem mit einem Vorwort Franz Kreuzers erschienenen Buch „Die Sinnfrage in der Psychotherapie” (Piper, München 1981) enthalten ist, schreibt Frankl, er kenne kaum jemanden, der mit dieser Problematik so sehr gerungen hätte wie er sein ganzes Leben lang. Schon im Alter von sechzehn Jahren hielt er in der Volkshochschule einen Vortrag über nicht mehr und nicht weniger als den Sinn des Lebens.

• Siehe: „Im Anfang war der Sinn”. Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Deuticke, Wien 1982. Oberstudienrat Dr. Karl Dienelt ist u. a. Verfasser des Buches „Tiefenpsychologie und Marxismus” (Böhlau. Wien 1983)

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