7049631-1990_47_15.jpg
Digital In Arbeit

im Archipel

Werbung
Werbung
Werbung

Zwei Monate ist Mia unterwegs in einem Viehwaggon nach Kasach-stan. ,Die Tagesration: ein Stück Schwarzbrot, das mehr Lehm war als Brot, zwei Stück Zucker, zwei Salzheringe. Die meisten waren gescheit genug und haben die He-ringe nicht gegessen. Aber die schon lange im Gefängnis waren, die waren doch mehr hungrig als wir. Sie sind todkrank angekommen im Lager.' Wasser erhalten die Gefangenen meist aus Regenlachen. Mia hat keinen Mantel und keine Decke. .Unterwegs hat man immer wieder geöffnet: Werft die Toten raus!' Aber es gibt auch Hilfe: ,Das war am Ende des Urals. Die Bäuerinnen sind gekommen und haben auf Kohlblättern heiße Kartoffeln gebracht. Die Bewachung hat sie weggejagt, hat sich aber dann umgedreht. Die Hilfsbereitschaft war groß... Ohne das russische Volk hätten wir das nicht überlebt. Und sie haben gesagt: Unsere armen Märtyrer! Solche Züge kommen da täglich vorbei. Auch unter der Bewachung waren solche, die geholfen haben."

In Akmolinsk muß sie Ziegel for-men, 23 Kilo schwer, dann arbeitet sie im Straßenbau, im Kohlenberg-werk, auf dem Feld. Alle drei Mona-te ein Brief ans Kind. Auszug aus einem des Sohnes: "Mama, weine nicht. Mir geht es hier gut... Hier ist noch mein Freund. Er ist Franzose. Seine Mutter Wohnt auch in einem Postfach..."

Auch Hilda Fitzthum, aus Wien mit Mia Spitz bekannt, passierte das Lager für Familienmitglieder der "Volksfeinde und Vaterlands-verräter" in Akmolinsk. Mit ihrem russischen Lebensgefährten Georgi Schtscherbatow wollte Hilda am "sozialistischen Aufbau des ersten Fünf-Jahres-Planes" teilnehmen. Der Geheimpolizist, der Georgi verhaftete, bezog sofort ihre Woh-nung. Von drei Kindern überlebte nur ein Sohn, mit dem sie 1948 nach Wien zurückkehren konnte.

Da die Fallgeschichten auf den Berichten Überlebender basieren, haben die meisten wenigstens ein teil weises happy end. Mia Spitz' Weg von Lager zu Lager, mit Deutschen, Finninnen, Polinnen, Wolgadeutschen, Adventistinnen, Babtistin-nen, Trotzkistinnen dauert bis Mai 1946. Der Sohn, der sich als dreizehn j ähriger Arbeiter in einem Flugzeugwerk bewährt hat, "reist" -teilweise auf den Dächern überf üll-ter Waggöns - ins Lager, findet die Mutter, erreicht ihre Freilassung.

Da das Geld für die Heimreise wenige Tage vorher der Währungs-reform zum Opfer fällt, sitzt sie bis 1954 in Karaganda fest. Nicht ein-mal eine Freundin von Lenins Wit-we Nadeschda Krupska ja kann Hilfe der KPÖ für sie erreichen: "Von Ihrer Partei haben Sie keine Hilfe zu erwarten! Niemand wird für Sie einen Finger rühren!" Sowjetische Kommunisten ebnen den Weg nach Hause. In Wien erhält sie den Totenschein Markus Spitz', Todesdatum: 12. November 1942. Die Rehabilitierung erfolgt im selben Jahr, die KPÖ setzt sie aber nicht auf die Liste der Geschädigten. KPÖ-Chef Friedl Fürnberg: "Willst du die Sowjetunion ausnehmen?" Trotz-dem erhält sie 1958 als erste Öster-reicherin Entschädigung für entzo-genes Gut: 8.227 Rubel, knapp 20.000 Schilling. Von der KPÖ bekam sie einen Zettel: "Wir teilen mit, daß das Zentralkomitee beschlossen hat, deine Mitgliedschaft seit dem Jahr 1923 anzuerkennen. Für die Kader-abteilung..."

Exemplarische Schicksale: Der Wiener Schutzbund-Emigrant Franz Jurica sollte, da er schlecht Russisch sprach, in Engels studieren, wurde aber mit anderen Wolgadeutschen nach Sibirien umgesiedelt, 1945 nach einem Briefwechsel mit dem österreichischen KP-Führer Johann Koplenig verhaftet und beschuldigt, daß er "mit dem deutschen Spion Koplenig unter einer Decke stecke" (!). Er verbüßte fünf Jahre Lager und vier Jahre Verbannung und konnte erst 1959 Verbindung mit seinen Angehörigen aufnehmen.

Hilde und Lorenz Mraz sind Schutzbund-Emigranten (siehe Kasten) aus Meidling. Sie treten freiwillig in die Rote Armee ein, um am Kampf gegen Hitler teilzuneh-men. Lorenz springt mit dem Fall-schirm über Österreich ab, fällt der Gestapo in die Hände und kommt um. Hilde springt über Polen ab, erreicht Wien, wird hier von der Gestapo erwischt, überlebt, wird von den Russen befreit - und verhaftet. Acht Jahre Lager: Im Winter wird die Arbeit im Freien erst bei Tempe-raturen unter 38 Grad eingestellt. Anschließend: Verbannung. Ihr "Verbrechen" besteht darin, daß sie das Gestapogefängnis überlebte.

Franz Koritschoner, einer der Mitbegrün-der und Grand Old Man der KP Deutsch-Österreichs, der seit 1930 in Moskau lebt, wird 1936 verhaftet und 1941 mit vierzig anderen in Lublin vom NKWD der Gestapo übergeben. Ein Liebesdienst Stalins für seinen Verbündeten Hitler. Koritschoner stirbt in der festen Überzeugung, einem tragischen Irrtum zum Opfer gefallen zu sein, in Auschwitz... .

Auf die Hilfe seiner "Genossen" von der KPÖ durfte vor, im und nach dem Krieg kein Stalinopfer rech-nen. Hohe KPÖ-Funk-tionäre wollten nichts von ihnen wissen -auch noch lang nach Stalins Tod, als nie-mand mehr fürchten mußte, durch ein Wort der Solidarität selbst nach Sibirien zu kommen. Rosa Puhm, eine der von Stalin zur Witwe gemachten Österreicherinnen: "Heute ist... viel von einer .Selbsterneue-rung der Partei' und vom .Bruch mit der stalinistischen Ver-gangenheit' zu hören. Gleichzeitig wird in der Volksstimme vom 28. April 1990 Fried-rich Hexmann... zi-tiert: .Unsere Partei braucht sich ihrer Ver-gangenheit nicht zu schämen!' Und in ei-nem Interview in der AZ erklärt am 26. Mai 1990 ein langjähriger Funktionär, daß er Dubcek, das Haupt des Prager Frühlings, für eine .Drecksau' halte. Da ist wenig von Distanz zur Vergangenheit zu spüren!"

MEMORIAL - ÖSTERREICHISCHE STALIN-OPFER. Sammelband. Anhang: Entstehung, Ziele, Tätigkeit von Memorial. Junius Verlag, edi-tion m, Wien 1990.144 Seiten, Pb.,öS168,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung