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IM DIALOG DIE WAHRHEIT SUCHEN

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Wenn man sich sinnvoll mit dem Thema Lehramt und Zeitgeist befassen will, müssen zuerst die Begriffe geklärt werden: Was ist Lehramt? Was ist Zeitgeist?

Die Hauptaufgabe der Kirche ist die Verkündigung des Evangeliums. Gleichzeitig ist ihr schon im Neuen Testament die Verheißung gegeben, daß sie in der Wahrheit des Glaubens bleiben wird. Beides richtet sich an die ganze Kirche, also an alle ihre Mitglieder. Bereits im Lauf der ersten Jahrhunderte wuchs jedoch den Amtsträgern eine besondere Verantwortung für die Glaubensverkündigung zu. Dazu kam ein immer ausgeprägter wahrgenommenes Wächteramt, nämlich die Sorge für die Übereinstimmung der Glaubens verkündigung und der Glaubenslehre mit der Botschaft des Evangeliums. In der Neuzeit, besonders seit dem 19. Jahrhundert, konzentrierte sich diese Aufgabe immer stärker in Rom. Wenn man also heute vom Lehramt spricht, versteht man die Formulierung und Überwachung der kirchlichen Lehre zunächst durch die Bischöfe, dann vor allem durch den Papst und seine Behörden.

Weit schwieriger ist es, den Begriff Zeitgeist zu klären. Als das Wort am Ende des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal auftauchte, bedeutete es zunächst ganz einfach die „herrschenden Meinungen, Sitten und Gewohnheiten einer Zeit", wie es Johann Gottlieb Herder formulierte.

Wenn heute, gerade in der Kirche, von Zeitgeist gesprochen wird, meint man damit im allgemeinen etwas Verwerfliches. Diese negative Verwendung des Wortes vereint heute konservative Politiker und Kulturkritiker mit den Anklägern der modernen Welt in den Kirchen. Der Vorwurf heißt: Anpassung an den Zeitgeist, die Forderung: Widerstand. Wenn man allerdings fragt, was denn konkret mit diesem Zeitgeist gemeint ist, fallen die Antworten denkbar verschieden aus.

Zeitgeist - ein Phantom

Gibt es Wertvorstellungen, die unsere Epoche durchgehend prägen, Grundideen, von denen sich die heutigen Menschen insgesamt leiten lassen? Auf diese Fragen hört man die unterschiedlichsten Antworten. Ist es der Egoismus der einzelnen, die ohne Rücksicht auf andere ihre privaten Ziele verfolgen und nur für ihr Fortkommen arbeiten, oder ist es der Wille zum selbstlosen Einsatz für andere, für eine menschliche, bessere Welt? Stehen wir vor einem Werteverfall, oder geht es um einen Wandel, um das Aufkommen neuer, bisher vernachlässigter Werte?

Lassen sich die Menschen von dem Willen zur Erhaltung des Lebens um jeden Preis leiten, wie es die absolute Hochschätzung der Gesundheit, die Sensibilität gegen alle Schadstoffe, die Priorität der Sicherheit in allen Bereichen und vieles andere mehr vermuten lassen, oder wird das Leben eher geringgeschätzt, wofür etwa das Stichwort Abtreibung steht? Lebt unsere Zeit unter dem Zeichen des Absterbens der Religion, der Säkularisierung, oder sind wir Zeugen des Aufstiegs neuer Religionen und Mythen? Bestimmt Verwissenschaftlichung und Rationalisierung unsere Gesellschaft oder der Trend zum Irrationalen, Emotionalen?

Solche und noch viele andere Antworten findet man in Zeitdeutungen und Zeitanalysen von heute. Aus dieser verwirrenden Gegensätzlichkeit kann man nur schließen, daß unsere Zeit zu vielfältig und zu differenziert ist, als daß sie sich auf einen einzigen Begriff bringen ließe. Wer vor der Anpassung an den Zeitgeist warnt, greift immer nur einzelne Züge heraus und verallgemeinert diese, ohne die Berechtigung dazu präzis nachzuweisen.

Der Begriff Zeitgeist mag als Schlagwort im Kampf gegen Andersdenkende und als Instrument der Diffamierung nützlich sein. In der Sache ist er ein Phantom, weil er nichts Klares benennt. Er ist eher ein Zeichen für die fehlende Bereitschaft oder auch für die Unfähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen. Im Interesse einer argumentativen, auf die Sache bezogenen Auseinandersetzung sollte man auf das Wort in diesem negativen, pauschalen Sinn verzichten.

Am Konzil orientieren

Ganz anders sprach das Zweite Vatikanische Konzil. Um seine Absicht zu verdeutlichen, verwendete es den von Papst Johannes XXIII. geprägten Begriff „Zeichen der Zeit". Es wollte damit zum Ausdruck bringen, daß unsere Gegenwart nicht einfach nur negativ zu bewerten ist, sondern daß es in ihr Entwicklungen gibt, die Werte des Evangeliums zum Ausdruck bringen und daher für die Kirche die Aufforderung enthalten, ihre Lehre und ihr Wirken zu überprüfen. Diese „Zeichen der Zeit" kann sie aber nur erkennen, wenn sie sich den Menschen und der Welt, in der sie leben, zuwendet und die Situation unvoreingenommen wahrzunehmen sucht. Das heißt: Weder pauschale Ablehnung noch pauschale Bejahung der modernen Welt, sondern eine Haltung, die das Positive vom Negativen zu unterscheiden weiß, wie es schon im I. Thessalonicherbrief heißt: „Prüft alles, und behaltet das Gute" (5,21).

Das ist auch die einzig realistische Haltung für die Handhabung des Lehramts in der Kirche. Denn es agiert nie im luftleeren Raum, sondern ist immer dem Denken der Zeit verhaftet, weil ja auch die Menschen, die dieses Lehramt ausüben, nicht einfach aufgrund eines Diktats des Heiligen Geistes handeln, sondern als Menschen ihrer Zeit. Wenn man die vom Konzil geforderte Unterscheidungsarbeit nicht leistet, kommt es zu den einseitigen, oft auch falschen

Entscheidungen, deren Folgen wir heute noch beklagen.

Nur zwei Beispiele: Im 19. Jahrhundert wollte das Lehramt der Kirche dem Zeitgeist widerstehen und verurteilte die modernen demokratischen Freiheiten, vor allem die Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit. Die Folge war eine tiefgrei-

fende Isolierung von der Moderne, die erst das Zweite Vatikanische Konzil zu überwinden suchte. Auf der anderen Seite übernahm die Kirche im Interesse einer Hervorhebung der Stellung des Papstes geradezu kritiklos die zentralistischen Tendenzen der Nationalstaaten und den modernen Begriff einer absoluten,

keiner anderen Instanz verpflichteten Souveränität. Auch hier wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil korrigiert werden mußte, weil sie wesentliche Elemente des Wesens der Kirche verdunkelte, nämlich die Bedeutung der Ortskirchen gegenüber der römischen Zentrale oder die Mitverantwortung der Bischöfe.

Die Rolle der Amtsträger

Es wäre eine Illusion, wenn man meinte, das Lehramt könne sich von den Einflüssen der jeweiligen Zeit vollständig freimachen und eine zeitunabhängige, unveränderbare, gleichsam „reine" Wahrheit verkünden. Um so wichtiger ist es, daß es alle Mittel anwendet, um zeit- oder personenbedingte Unzulänglichkeiten soweit wie möglich zu vermeiden. Den Weg dazu hat das Zweite Vatikanische Konzil genannt: Der offene, von allseitigem Vertrauen getragene Dialog, in dem möglichst alle Meinungen zu Wort kommen und im fairen Austausch der Argumente eine sachgemäße AntworJ: auf die Fragen und Probleme gesucht wird.

Walter Kasper, heute Bischof von Rottenburg-Stuttgart, hat schon im Jahr 1970 betont, welche wichtige Rolle den Amtsträgern in diesem Meinungsbildungsprozeß zukommt. Sie sollen nämlich den „institutionellen Rahmen" garantieren, „in dem ein offener und öffentlicher Dialog möglich ist". Sie müssen also alle zurückweisen, die den Dialog manipulieren wollen, und haben dafür zu sorgen, daß keine wichtige Stimme fehlt. Nur eine solche dialogische Wahrheitsfindung schafft die Möglichkeit, daß das Lehramt der Kirche in den vielen Ideen und Bewegungen der Zeit das Positive vom Negativen unterscheidet, die wirklichen Fragen der Menschen erkennt und eine Antwort findet, die die Botschaft des Evangeliums in der jeweiligen Gegenwart glaubwürdig bezeugt.

Der Autor ist Chefredakteur der Zeitschrift „Stimmen der Zeit".

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