6930582-1982_27_09.jpg
Digital In Arbeit

Im Dickicht des Jahrhunderts

19451960198020002020

Die FURCHE freut sich, Aufzeichnungen von Luise Rinser veröffentlichen zu dürfen. Die Tagebücher werden im Herbst unter dem Titel „Winterfrühling” im Verlag S. Fischer, Frankfurt, erscheinen.

19451960198020002020

Die FURCHE freut sich, Aufzeichnungen von Luise Rinser veröffentlichen zu dürfen. Die Tagebücher werden im Herbst unter dem Titel „Winterfrühling” im Verlag S. Fischer, Frankfurt, erscheinen.

Werbung
Werbung
Werbung

Homo ludens. Der spielende Mensch. Im TV gesehen: bei einer Ausstellung von neuen Erfindungen in Lausanne (oder Genf) gewann den ersten Preis ein Engländer, Charles Morgan, mit seinen „unnützen Maschinen”. Sie sehen aus wie komplizierte Apparate der chemotechnischen Industrie: Glaskolben, Röhren, Röhrchen, Räder und Rädchen, Riemen und Hebel, alles beweglich. Die Glasröhren sind mit bunten Flüssigkeiten gefüllt, die durch die ganze gläserne Maschinerie gepumpt werden, lautlos und zwecklos. Nichts als Spiel, Vergnügen, Verzauberung. Spiel um des Spielens willen. Vor keinem andern Gegenstand sind so viele Leute versammelt wie vor diesem Spielzeug. Es trägt den Sieg davon über alle noch so nützlichen Maschinen. Alle Besucher zeigen Freude.

Ich denke nach: das ist keine Parodie auf die Technik, das ist vielmehr die Uberwindung der Dämonie der Technik, die Uberwindung des zwanghaft Nützlichen. Vom Wesen her ist das Kunst. Der spielende Mensch, das ist der Künstler. Er ist zu nichts nütze. Aber rotte man einmal Spiel und Kunst und Traum und Phantasie aus—! Aus der Psychiatrie weiß man, daß ein Mensch sterben kann, wenn man ihm nicht zu träumen gestattet, indem man ihn jeweils sofort weckt, sobald die Bewegungen seiner Augäpfel unter geschlossenen Lidern anzeigen, daß,er träumt. Die Funktion der Kunst: die Menschen am Leben zu erhalten.

Botschaft ins All. Im RAI (Ra-diotelevisione Italiana) wird eine Szene aus dem Jahr 1974 gezeigt: eine Gruppe von Menschen sitzt in den USA um Geräte, welche als starke Sender vorgestellt werden. Die Leute sind meist Naturwissenschaftler. Sie senden eine Botschaft in den Weltraum. Die erste Botschaft dieser Art, so wird gesagt. Und wer soll sie auffangen? Ein Planet mit mir unbekanntem Namen, der 500.000 Lichtjahre entfernt ist.

Und wer dort wird sie hören? Wer wird die elektrischen Signale übersetzen in die Sprache der möglichen Bewohner dieses Planeten? Wird jemand antworten? Wann? Und wann kommt die Antwort auf unsere Erde zurück? Wird von den Sendern der Botschaft einer die Antwort hören? Und welche Botschaft wurde von der Erde ausgesandt? Vielleicht lautet sie so: Wir sind Menschen, wir leben auf dem kleinsten Planeten Erde, wir sind dabei, ihn zu zerstören, könnt Ihr uns retten, habt Ihr ähnliche Erfahrungen, antwortet bitte!

Eigentlich ein irrwitziges Unternehmen. Sonderbare Geschöpfe sind wir Erdenmenschen. Früher sandte man Botschaften an die Götter, die irgendwo „da oben” geglaubt wurden. Gebete. Hilferufe an unbekannte ferne Wesen, von deren Existenz man überzeugt war. Der hebe Gott. Ist das Senden der Signale zu jenem Planeten, der fünfhunderttausend Lichtjahre entfernt ist, vernünftiger?

Ich wage nicht zu sagen, daß eins so absurd ist wie das andre. Ich meine, eines ist so sinnvoll wie das andre. Mir will scheinen, es sei sicherer, das zu tun, was man beten nennt: die Antworten kommen oft sofort. Aber das ist Erfahrungssache. Und ich bin ihrer nicht einmal absolut sicher... es sei denn, der ferne Adressat sei gar nicht weit weg, sondern in uns.

Eben sagt mir Stephan, von mir befragt nach dem Inhalt der Botschaft, dabei sei Schülers Ode an die Freude (Beethovens Neunte). „Brüder — überm Sternenzelt muß ein Vater wohnen.” Und: „Seid umschlungen Millionen.” Ein Liebesangebot an Außerirdische. Wenn die sehen, wie wir hier uns hassen und umbringen, muß ihnen unser Angebot lächerlich lügenhaft erscheinen.

Corpus Christi. November 1981. Bestätigung meiner Uberzeugung von der Herrschaft des Teufels. Man hat in den USA ein Atom-U-Boot Corpus Christi getauft. Corpus Christi: der Leib des Christus. Eine Mordwaffe großen Stils heißt also Leib Christi.

Proteste kamen. Man hat eiligst verharmlost: Das sei keine Blasphemie, sondern ganz simpel der Name der Stadt Corpus Christi, und danach ist das Boot benannt. Ach so, so ist das, so harmlos. Aber warum gerade Corpus Christi, warum nicht New York oder Florida oder Miami?

Nein nein, diese Namengebung ist nicht harmlos. Sie stammt von Ahriman, dem Teufel. Er will die Perversion. Der Leib Christi, der geopfert wurde, damit der Mensch lebe. Dieses U-Boot, das eingesetzt wird, um den Tod zu bringen. Teuflische Methode: die Lüge durch Verharmlosung.

Heute die neueste Meldung aus den USA: ein Superflugzeug heißt: „Das Jüngste Gericht”. Mir stockt das Herz. Das ist die Herausforderung des Teufels an die göttliche Macht: Das Endgericht, das überlasse ich nicht dir, das mache ich. Und ich werde nichts und niemanden verschonen. Das ist meine Rache an dir. Warum eigentlich hat der Papst (er allein kann das) nicht den Mut, die USA mit dem Kirchenbann zu belegen, solange mit solchen Lästerungen gearbeitet wird? Das Weltgericht, es wird über die kommen, die es solcherart auf sich herabrufen.

Der traurige Sieger. Im Museum Villa Borghese vor dem BUd des Caravaggio „David und Goliath”:

Ein schöner Knabe, braunhäutig, dunkelhaarig, hält das abgeschlagene Haupt des Goliath, er hält es beim buschigen Haarschopf. Seine Hand scheint blutig zu sein, aber das Dunkle kann auch ein Schatten sein. Dieser David, so jung noch, ist ein großer Held, er hat soeben den Kampf zwischen seinem Volk und dem Feindvolk der Philister siegreich beendet.

Wer ist denn dieser Knabe? Nichts als ein Schafhirt, den sein König Saul sah, und er „faß te große Zuneigung zu ihm”, so steht es in der Bibel. David wurde Sauls Waffenträger. David konnte aber auch schön die Zither spielen, so wurde er Sauls Spielmann. Wenn den alten König die schwarze Schwermut überkam, und das geschah oft, so spielte ihm David die Geister der Finsternis in die Flucht.

Saul hatte Feinde. Wieder einmal muß er Krieg führen. Er selbst ist zu alt, um mitzuziehen, und David ist zu jung für den Krieg. Und Saul will ihn nicht mitziehen lassen, seinen Liebling. Der aber besteht darauf. Ihn ärgern die großmäuligen Provokationen dieses Philisters Goliath, dem will er es zeigen. Saul gibt dem Knaben also nach und schenkt ihm eine starke Rüstung. Aber die ist zu schwer. David wirft sie unterwegs ab. Waffenlos tritt er dem Goliath entgegen.

Dieser Goliath ist sehr groß und sehr stark. Ein Riese. Als er den Knaben sah, waffenlos und ungeübt im Kampf, wird er gelacht haben. Aber der Knabe schaut ihn nur an. Und dann tut er etwas sehr Knabenhaftes: er zieht einen spitzen Stein aus der Tasche und schleudert ihn gegen Goliath. Aber wie er ihn schleudert! Als hätte er die Praktiken des Zen-Buddhismus gekannt: er sammelt alle seine Kraft, spürt den schwächsten Punkt des Gegners aus, peilt ihn an und wirft. Das sitzt! Der Stein trifft den unachtsamen Riesen mitten auf die Stirn. Er fällt. Der Knabe läuft hin und schlägt ihm den Kopf ab.

Das ist der Augenblick, den Caravaggio dargestellt hat Was aber ist nun mit dem jungen Helden? Strahlt er? Triumphiert er? Ist er stolz? Nichts davon. Nur Trauer und Betroffenheit ist in diesem jungen Gesicht

Ingeborg erzählt, daß ihr kleiner Kater, als er zum ersten Mal eine Maus erlegt hatte, fassungslos davor saß. Seine Verstörung dauerte lange. Die erste Erfahrung mit der eigenen Macht Leben auslöschen zu können, ist schrecklich. Mord ist geschehen. Wieder einmal ist Unschuld unwiderruflich zerstört. Wieder einmal ist der Friede zwischen den Geschöpfen gebrochen. Einmal die Schwelle überschritten, sind die nächsten Morde leicht

Dem Knaben David wird das Haupt des Feindes schwer in der Hand. Er vermag es nicht einmal hochzuheben und als Trophäe zu schwenken. Er hat gemordet Er hat sich mit Schuld beladen, auch wenn ers für seinen König und sein Volk tat Der erste Mord ist Mord, wofür und warum auch immer er geschah. Das weiß David jetzt Und jetzt ist er kein Kind mehr, jetzt ist er ein Mann und wird weiter töten, er wird Kriege führen, er wird Neid und Haß auf sich ziehen, sein eigener König und Vaterfreund wird den Speer nach ihm werfen und den Flüchtenden in die Wüste hineinverfolgen.

David wird genötigt, sich zu Sauls Feinden zu schlagen. Saul begeht Selbstmord. David kehrt siegreich zurück und wird nach Saul König, aber Frieden findet er nicht Zwischen seinen Nachkommen und denen Sauls wird Feindschaft sein für lange Zeit Schuld auf Schuld wird gehäuft, bis er stirbt und den Thron seinem Sohn Salomon läßt

In dem Bibelbericht vom Tode gavids ist noch einmal von einem aupt die Rede, das abgeschlagen werden soll im Auftrag Davids an seinen Sohn: Geh hin und töte den Joab und „schicke sein graues Haupt nicht unversehrt in das Totenreich.”

Dies alles steht im Gesicht des Knaben David. Sein Sieg ist nichts als Niederlage.

(Copyritht S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1982.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung