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Im Einklang mit dem Publikum

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Das „Holland Festival“ hat viele Gesichter; das wichtigste ist seine Liberalität in Form und Inhalt, seine Offenheit nach allen Seiten. Es will nicht bilden, nicht erziehen, nichts verändern. Sein Publikum scheint mit den Veranstaltungen in zwölf Städten des Landes überwiegend im Einverständnis zu sein. Wer ist dieses Publikum? Arbeiter sind es auch hier nicht. Aber für die US-Touristen auf Europatrip und für die internationale Snobiety wird das Festival ebensowenig geplant. Die Zielgruppen, wurde dem Fremden erklärt, seien sehr differenziert. In die Oper gingen auffallend viele „kleine Leute“; sie sei in Holland nicht typisch „bourgeois“. Betont konservativ, für Neues am wenigsten ansprechbar verhielten sich die Concertgebouw-Besucher, doch es gebe eine zahlenmäßig sehr große (und zum Teil sehr junge) Zuhörerschar bei Barockmusik.

Viele Gesichter also auch diesseits der Rampe: es lohnt sich, sie ins Auge zu fassen. Da ist der Volksschullehrer, durch eine Krankheit an der Ausübung seines Berufs gehindert; er hat Zeit, ist abends nicht müde. So hört er, der passionierte Blockflötenspieler, Schallplatten mit Neuer Musik, kauft sich eine Karte für ein Konzert des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters mit Werken von Strawinsky, Maderna und Berio. Da sind im „Mickery“ — dem Theaterraum einer Stifung „Mickery Workshop“, die das ganze Jahr über experimentelles Theater, Off-Off-Theater, politisches Theater nach Amsterdam bringt — die beiden Studenten, die den Gast aus der BRD in ein Gespräch über Kroetz' „Stallerhof“ verwickeln; das Stück wurde in der Produktion des Hamburger Deutsehen Schauspielhauses gegeben, und im Foyer waren die holländischen Kritiken ausgehängt, überwiegend positive, aber auch einige verstörte. Und schließlich sind da die feierlichen Mienen jener, die eben noch auf der Ballett-Gala aus Anlaß der Verleihung des ErasmusPreises den gesetzten Lobes- und Dankesworten lauschen mußten; etwas abseits ist ein junges Paar welt-und zeitvergessend derart mit sich selbst beschäftigt, wie es woanders in solcher Umgebung schwerlich denkbar wäre.

Der Erasmus-Preis ist mit dem schwedischen Nobelpreis vergleichbar; er wird für Leistungen auf kulturellem, sozialem oder sozialwissenschaftlichem Gebiet vergeben. Robert Schuman und Karl Jaspers haben ihn erhalten, doch auch Charles Chaplin und Ingmar Bergman; Romano Guardini und Martin Buber wurde er ebenso zugesprochen wie jetzt zwei Größen des Balletts: Dame Ninette de Valois und Maurice Bejart. So kam es zu der Amsterdamer „Gala“, die sich eher etwas fremd ausnahm in der gewohnten Festival-Atmosphäre. Ninette de Valois, Tochter eines irischen Obersten, hat das klassische englische Ballett begründet. Ihre berühmteste Arbeit, „The Rake's Pro-gress“, hält sich seit der Uraufführung — also seit nahezu vierzig Jahren — im Repertoire. Der Stoff ist identisch mit dem von Strawinsky für seine Oper benutzten, die Musik eines Herrn Gordon natürlich mit der später entstandenen nicht vergleichbar. Ein Museumstück also, das in Amsterdam durch das Londoner „Royal Ballet“ präsentiert wurde? Nicht ausschließlich, sondern auch ein Werk von großer formaler Geschlossenheit, witzig, lyrisch, pantomimisch eindringlich. Näher — nicht nur zeitlich — ist uns Maurice Bejarts „Le Marteau sans Maitre“ nach der Musik von Boulez, uraufgeführt vom Brüsseler „Ballett des 20. Jahrhunderts“ 1973 in Mailand. Die Choreographie hat — das zeigte die Wiederbegegnung — klassische Züge; der Einbruch des Fremdartigen, Skurrilen, Traumbezogenen ist von Bejart mit staunenswerter Musikalität ins Bild gebracht, auf dem schmalen Grat zwischen Bedeutung und Abstraktion.

Das „Holland Festival“, vergleichsweise arm an Mitteln, hat seine größten Chancen dort, wo Phantasie und Entdeckerlust die Impulse geben. Vom Publikum wird das Wiedergefundene bereitwillig als das „Neue“ begrüßt und nicht als Flucht vor dem Neuem. Zwei historisch sachkundige, doch nicht historisierende Opernproduktionen bewirkten diesen Einklang: Agostino Agazzaris „dramma pastorale“ „Eumelio“ (1606) in der Utrechter Geertekerk und Pier Francesco Cavallis „L'Erismena“ (1655), in Den Haag, Amsterdam und Rotterdam geboten von der „Nederlandse Ope-rastichting“. Das für deutsche Jesuiten in Rom geschriebene Schäferstück des aus Siena gebürtigen Edelmanns Agazzari strahlt unvergleichliche Schönheit und Herbheit des Melos aus, grundiert von einem klangfarblich delikat besetzten Con-tinuo-Part. „L'Erismena“, auf alten Instrumenten musiziert („La Petite Bande“ unter Alan Curtis), stimmlich — u. a. mit vier Kontertenören! — ausgezeichnet besetzt, geriet zum überzeitlichen, durch Ironie vom Pathos befreiten Opernfest. Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Filippo Sanjust hielt Affekte und Buffonerie in der Schwebe; es war ein Abend voller Helligkeit und Spaß und Zartheit.

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