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Im Geist der Versöhnung

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Heute ist Österreich ein Staat, den alle wollen, einfach deshalb, weil wir zur Aufrechterhaltung des politischen Gleichgewichtes in Europa aber auch in der Welt notwendig sind. Darin sehe ich die große Herausforderung an alle Österreicher: Durch Zusammenarbeit über alle politischen und ideologischen Unterschiede hinweg unser Land wirtschaftlich und politisch stabil zu erhalten. Damit leisten wir den größten Beitrag für unsere eigene Sicherheit, aber auch zur Erhaltung des Friedens in der Welt.

Dieses Werk der Zusammenfassung aller positiven Kräfte wird

freilich nur dann gelingen, wenn ich, wenn es um Existenzfragen unseres Staates geht, auf die Mitarbeit aller Österreicherinnen und Österreicher, aller Gruppen und demokratischen Parteien zählen kann, aber auch auf die Mitarbeit aller Minderheiten, die die kulturelle Vielfalt unseres Landes begründen und bereichern.

Ich betone jetzt ausdrücklich: auch jener klein gewordenen, aber wichtigen jüdischen Minderheit, die wir in unserem Gemeinwesen keinesfalls missen möchten! Ihre Vorfahren haben in der Geistesgeschichte unseres Landes untilgbare Spuren hinterlassen.

Die Nazi-Zeit hat ungeheures Leid über unser Land und über Europa gebracht. Viele Millionen Männer mußten in einen Krieg ziehen, den sie nicht wollten, Millionen auf beiden Seiten kehrten nicht mehr heim zu ihren Familien, ganze Länder und Städte wurden verwüstet, Millionen wurden als Folge dieser unseligen Ereignisse aus ihrer Heimat vertrieben.

Unfaßbares Leid kam durch die Nazis vor allem über die Juden in ganz Europa und auch über unsere jüdischen Mitbürger in Österreich, von denen viele emigrieren mußten, ein Drittel aber in den Konzentrationslagern ermordet wurde.

Aber auch gerade deshalb, weil ich das so entschieden verurteile, was unter dem Nazi-Regime geschehen ist, weise ich die Verleumdungen, wie sie in den letzten Monaten gegen mich und gegen unser Land erhoben wurden, mit der gleichen Entschiedenheit zurück, mit der ich gleichzeitig die Mitbürger aufrufe, bei dieser Zurückweisung nicht zu pauschalieren und vor allem keinen neuen Antisemitismus in unserem Land zu dulden.

Unsere jüdischen Mitbürger haben ein uneingeschränktes Recht auf ein friedliches, geachtetes und gleichberechtigtes Leben in unserer Mitte. Dafür möchte ich mich auch im Falle der Wahl als Bundespräsident verbürgen.

Die Lehren, die wir alle aus einer schrecklichen Vergangenheit ziehen sollen, sind die der Toleranz und der Verständigung, nicht jene der Unversöhnlichkeit und des Hasses. Wir wären schlechte Politiker und schlechte Patrioten, wenn wir nicht wüßten, daß jene, die aus der Geschichte nicht lernen wollen, dazu verdammt sind, diese zu wiederholen.

Aber Vergangenheitsbewältigung darf nicht zur Flucht in die Vergangenheit werden. Die Garantie, daß es nie wieder ein zweites Auschwitz gibt, erwerben wir uns nicht dadurch, daß wir zu Haß und Unversöhnlichkeit hetzen, sondern daß wir im Geist der Toleranz und der Versöhnung einander ein „Vergeben, aber nicht Vergessen“ geloben.

Dieser Geist der Versöhnung, der auch dem Wiederaufbauwerk nach 1945 zugrunde lag, war nicht die „Lebenslüge“, von der einige Schreibtischhistoriker heute selbstgerecht reden. Ich identifiziere mich voll mit der Aussage des österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger, der alle Völker dieser Erde vor Schuldzuweisung an andere warnte. Alle haben wir die Last und die Bürde einer Geschichte zu tragen, die aus Helden- und aus Schandtaten, aus Triumphen und aus Erbärmlichkeiten bestand.

Das jüdische Volk hat mehr gelitten als viele andere Völker dieser Erde. Ich stehe mit Ergriffenheit vor diesem Leiden. Aber andere Völker, auch das österreichische, haben ihr Maß an Leiden — nicht nur ihr Maß an Schuld — gleichfalls in die gemeinsame Geschichte der Menschheit eingebracht.

Und ich zitiere respektvoll einen Satz des jüdischen Schriftstellers und Theologen Elie Wiesel, der geschrieben hat: „Das Leiden als solches verleiht in der jüdischen Tradition keinerlei Vorrecht. Es kommt darauf an, was man aus seinem Leiden macht.“

Was Österreich aus seinem Leiden nach 1945 gemacht hat, kann alle Welt sehen: Im Geist von Toleranz und Versöhnung ein großes Aufbauwerk. Im selben Geist von Toleranz und Versöhnung gilt es heute, ein Aufbauwerk von noch größerer Dimension in Angriff zu nehmen: Die Sicherung des Fortbestandes der Menschheit — eine Aufgabe, der sich kein Volk der Erde entziehen kann.

Dazu brauchen wir Verstand aber ebenso Herz. Dazu brauchen wir Wissenschaft und Technik, aber ebensoviel Charakter und Moral. Dazu brauchen wir Fortschritt und Wachstum, aber gleichzeitig einen neuen, einen bescheideneren Lebensstil.

Auszug aus der „Rede an Österreich“ des Präsidentschaftskandidaten und UN-Generalsekretärs a. O. am 21. Mai in Wien. Die FURCHE (19/1986) hatte eine öffentliche Versöhnungsgeste gegenüber den Juden in Osterreich angeregt.

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