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Im Gleichgewicht

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Die Blumentröge am Geländer der Gänserndorfer Exnerbrücke enthielten jetzt im Juli dieses Hitzejahrs nur noch vertrocknetes Blattwerk.

Frau Harich und Zwigott hatten schon den zweiten Schnellbahnzug unter ihrem Brückenplatz da-vonsausen lassen. Harich hatte sich vom Computer alle bisher in den gespeicherten Textelementen erfaßten Personen- und Ortsnamen ausdrucken lassen. Eine Textanalyse mit Angabe der Satzlängen, der Abstände zwischen den Themenwechseln, der häufigsten Hauptwörter sowie der Stoffüberschneidungen lag vor. Die meistgebrauchten Wörter waren Ebene, Licht, Hitze, Dürre, Einsamkeit, Arbeit, Brot, Gemäuer, Grenze, Schlacht, Tod.

Zwei von ihren drei schweren Taschen voll Listen trug Zwigott für seine Kollegin zum Bahnhof. Er selbst hatte seinen Schreibtisch in der Handelsakademie geordnet und geräumt.

Vor der neuen Stundenplanbestimmung im Herbst werde ich meine Entscheidung bekanntgeben, antwortete Zwigott auf Ha-richs naheliegende Frage nach der Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit.

Schweigend blickten die beiden von der belebten Brücke auf den tiefen Bahngraben hinunter oder zum Siloturm hinüber, Zwigotts außergewöhnlichem Wohnsitz und Beobachtungspunkt seiner Landschaftstexte.

Ein Abbild der Kollegin Labek als Romanfigur könnte dem Bohrmeister Ampler aus Ader-klaa zuneigen — die Bohrkerne fördern dort jahrmillionenaltes Urgestein ans Tageslicht -, Gesprächsstoff genug für die leidenschaftlichen Geologen. Mit diesen Worten schlug Zwigott seiner einstigen Auftraggeberin lächelnd die dem Romanentwurf einzufügenden Liebesverhältnisse vor. Oder Programmierer Postl müßte sich zur begeisterten Textlieferantin Plahuta hingezogen fühlen. Eine Betrachtung würde selbstverständlich die auffällige Loyalität unseres Kollegen, des Sportprofessors Osam, für Frau Vera Siegl erlauben. Oder etwa eine Verbindung besonderer Art zwischen ihr und unserem militanten Atheisten Spieß?

Frau Harich hörte sich Zwigotts Ubermut mit Unbehagen an.

Wieder pfauchte ein blau-gelber Schnellbahnzug unter ihnen auf den Gänserndorfer Bahnhof zu. Ich selbst gäbe vielleicht einen Lehrer ab, dem das Schicksal der ' Schülerin Frieda Siegl mehr als die pädagogische Zuwendung abforderte. Langsam hob Frau Harich den Blick vom pagodenartigen Stellwerksgebäude rechts unter ihrem Brückenplatz zu Zwigotts rätselhaftem Gesicht herauf. Doch ihre mißbilligende Miene konnte nicht verhindern, daß Zwigott weiterredete. Eine Nachzeichnung Ihrer selbst, Frau Harich, ließe sich unschwer in den Mittelpunkt eines einschlägigen Geschehens gemeinsam mit einem Abbild des Herrn Fabits oderi des Schülers Duitz stellen, doch leider...

Schweigen Sie endlich, fauchte ihn die Harich jetzt an.

Hinter ihnen überquerte ein Traktor mit zwei hochbeladenen Anhängern voll Getreidesäcken die Exnerbrücke. Links, in gerader Linie zum Brückengeländer, stand das Kornkassa-Gebäude, in dem sie so oft Freund Siegl getroffen hatten. Verhöhnen Sie heute nicht die Aufgabe, an deren Erfüllung Sie selbst so gut mitgearbeitet haben, flüsterte Harich bitter. Aber in einem richtigen Roman muß es Liebesgeschichten geben, das brauche ich Ihnen doch nicht zu beweisen, versetzte Zwigott, ich bin überzeugt, daß einige der Mitautoren... Die Kunstform Roman, Herr Zwigott, ist für die Darstellung jener Wirklichkeit zuständig, die mit keinem wissenschaftlichen Apparat, keinem historischen Dokument oder Monument, keiner Statistik erfaßbar ist: für jene auch im ausgebreiteten Text unaussprechlich bleibende, aber nur dort erlebbare, widersprüchliche Verfassung der Menschen innerhalb ihrer Zeitumstände.

Endlich antwortete Zwigott ernsthaft: Das aktuelle Lebensgefühl der Zehntausenden Arbeiter und Angestellten in den Standorten der Erz-Blech-Chemie wird immer unerfaßt, geheim bleiben.

Frau Harich beharrte: Man müsse mit der Feder vor dem Papier sitzen oder im abgedunkelten Zimmer vor dem Textcomputer — und schreiben! In immer neuen Anläufen schreiben, formulieren, das Ubereinstimmen seiner Sicht der Dinge mit dem Schriftsatz herbeizwingen, sonst entstünde keine Prosa! Der Roman entstehe nicht durch Nachdenken über ihn.

Die Julisonne schlug auf die beiden leise Redenden, fast Lispelnden ein, die ihr mitten auf dieser Brücke wie vor einem Brennglas preisgegeben waren. Er verstehe schon, erwiderte Zwigott: Das Wichtignehmen eigener Vorstellungen und Abdrängen des Restes der Welt versetze in jene Unbedingtheit, die die Sperre vor dem Abfassen literarischer Texte überwindet. Er sei aber nicht bereit, diesen Preis zu bezahlen, der selbstverständlich bedenklich sei.

Denn die Selbstauflösung bei Vollendung— vom Absterben des vollkommenen Staates, vom Heiligen, der zu Staub werden möchte, bis zum Verstummen des in den anderen Zustand versetzten Poeten — betrifft auch Sie, Frau Harich: in Anpassung des Romanmodells an die prosaische Wirklichkeit, im Heranreißen der banalen Authentizität löst sich die künstliche Geometrie in jene stotternde Sprunghaftigkeit auf, zu deren Abbildung sie entworfen war...

Harich und Zwigott hatten aufgehört, die unter ihnen vorbeiziehenden Waggondächer zu zählen. Mit öliger, surrender Massigkeit schlitzten sich immer wieder die Schnellbahnzüge durch den gla-stigen, in Hitzewallungen vibrierenden Luftsee. Der Standort auf dieser Brücke stemmte die beiden Lehrer nicht nur körperlich über den steinigen Grund in die flimmernde Glut hinauf, auch ihre Einsichten schienen in den gemeinsamen Erinnerungen dieses heute endenden Schuljahres zu schweben. Es wurde klar, daß dies jedenfalls ein Abschied werden würde.

Harich begehrte auf: Diese Urteilsschärfe verdanken Sie immerhin der Befassung mit unserem Textprojekt, Herr Zwigott! Ich bin Zeugin Ihrer Selbstfin-dung, vergessen Sie das nicht bei Ihrem hochmütigen Uberstieg.

Alles Lebendige suche stets umher, entschuldigte sich Zwigott, es experimentiere. Sogar jeder Einzeller wolle dort langsam schwimmen oder stehenbleiben, wo seine Welt besser sei. Erfindungsgeist schaffe immer neue Nischen des Uberlebens, er bohre sie selbst in die nachwachsenden

Versteinerungen - stumm, daher mit unerschöpflicher Wucht.

Befristeten Schönheitsbesitz leugne Zwigott nicht, auch nicht manche Gewißheiten, sogar Glücksempfindungen. Zum Beispiel das Friedenserlebnis des hohen Mittags hier in dieser hellen Stadt, wie er Gänserndorf immer nennen werde: die verläßlichen, pünktlichen Züge; die tragfähige Brücke; das liebevoll assortierte Marchfeldkaufhaus hinter uns; die Gasthäuser, Tankstellen; die Apotheke, der Notar, der Eissalon, die Gemeindeverwaltung in der Bahnstraße, der Kirchenplatz mit der Schubertlinde; rings die sauberen Familienhäuser in heimeligen Gärten — und das alles überflutet von goldenem Sonnenlicht. Doch was wollen Sie darüber aufschreiben, Frau Harich? Mit Grammatik ist nichts davon zu übertragen.

Aus dem neuen Roman „Wüstungen” von Matthias Mander, der soeben im Verlag Sty-ria, Graz, erscheint

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