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Im größeren Raum

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Die schwachen Charaktere unter den Literaten neigen dazu, sich an einer Fahnenstange festzuklammern; die starken kommen ohne Fahne aus. Sie stehen dem geistigen Kern der Schöpfung näher, fühlen sich deren ruhig wirkender Kraft angeschlossen, geben den ursprünglichen Strukturen menschlichen Lebens immer wieder Gestalt. Der Wechsel der Moden vollzieht sich außerhalb ihres Fühlens. Staimend vermerken sie die Farbenspiele der Oberfläche, doch bleiben sie, wo sie sind: außerhalb des Treibens, in einer Wirkliche keit des großen Zeitraums. Hier ist es still; der Schmerz wirkt tiefer, das Glück geistiger, auch wenn es körperlich empfunden ist. Ein Streben nach Balance ist ^ das Ergebnis.

Das Wirken solcher Kräfte ist am Beispiel des literarischen Werkens von Gertrud Fusseneg-ger zu studieren. Sie hat in all ihren Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Essays, vor allem in ihren Gedichten (die sie schamhaft ,4yrische Kürzel“ nennt) die Spiele des Lebens und der Gedanken als Spiegelimgen jenes Urgrunds dargestellt. Im Rückblick wurde ihr selbst die Einheit in dieser Vielfalt begreifbar. Sie schreibt:

, Alles, was ich an Literatur hervorgebracht habe, umkreist im Grunde ein Thema: die Spannung zwischen Ordnung und Unordnung, Gesetz und Chaos, zwischen verantworteter Lebensentscheidung und ungebunden schweifender Spontaneität.“

Der innere Zwang, immer wieder dieses Thema zu gestalten, entspringt der Persönlichkeit der Autorin, auch ihrem Schicksal, und das in vielfacher Weise.

Sie ist 1912 in Pilsen zur Welt gekommen und in eine Zeit hineingewachsen, die eine festgefügte Ordnung durch jenes Chaos ersetzte, aus dem dann, durch Ballung der Massen, die mörderischen Despotien hervorgegangen sind. Zugleich wurden die Deutschen Böhmens einer seelischen Spannung ausgesetzt. Sie betraf ihre Identität. Gertrud Fussenegger, eine halbe Allemannin, verbrachte die ersten Jahrzehnte ihres Lebens in Böhmen, in Galizien, in Vorarlberg, in Bayern: in jener Mitte Europas, die den Spannungen der Zeit am stärksten ausgesetzt war. Die Kräfte des Auseinanderstrebens wirkten hier ebenso heftig wie die Versuche, die Einheit unter einer deutschen Diktatur wiederherzustellen. Was aber war wirklich Ordnung? Das Alte? Das Neue? War das Neue, der nationale Sozialismus, zu begrüßen oder zu bekämpfen?

Das Mädchen, die junge Frau, die von solchen Fragen bestürmt wurde - und die Bürde einer Suche nach Antworten auf sich nahm - war zudem impulsiv, aber durch Selbstdisziplin gehemmt. Wir wissen es aus dem autobiographischen Roman „Ein Spiegel-büd mit Feuersäule“ (1979). Schweifende Spontaneität stand gegen verantwortete Lebensentscheidung. Mit der Bereitschaft, Zuneigungen zu folgen, wuchs die Fähigkeit, Enttäuschungen zu ertragen. Erziehung und Tradition zogen klare Grenzen. Waren sie im Zeichen des freien Willens zu überwinden oder entsprachen sie einem wohlbegründeten Ethos?

Doch Gertrud Fussenegger war vor allem Dichterin, eine mit starkem Charakter. Sie befand sich nicht ganz im Alltag, sondern in der dichteren Wirklichkeit des großen Zeitraums. Sie war, fremd den Moden, der dauerhaften Ordnung verbunden, hatte nach dem Gesetz des Schöpfungsaktes zu wirken, im Sinne dieses Gesetzes eine fein ausgewogene Syntax zu formen, für das Schweigen der lautlosen psychischen Spannungen eine Sprache zu schaffen. An diesem entscheidenden Punkt stellte sich die Frage zum dritten Mal. Nur die Uberwindung des Chaos brachte Ordnung. Das hieß aber auch: Wer das Chaos nicht erlitt imd erlebte, konnte nicht zur Ordnung gelangen. Das „Stirb und werde“ Goethes fand auch in diesem Fall Bestätigung.

Der reichen Gedanken- und Gefühlswelt dieses Lebens verdanken wir ein umfangreiches Werk. Vom Roman „Geschlecht im Advent“ (1937) führt ein langer Weg zur Novellensammlung „Nur ein

Regenbogen“ (1987). Auf diesem entfaltet sich eine treffliche, zuweilen den Zauber des Unabwäg-baren, des Genialen, streifende Begabung, die durch eine merkwürdige Eigenheit verblüfft. Sie verjüngt sich von Jahr zu Jahr, wird immer leichter vmd subtiler; diese Prosa gewinnt immer mehr an Schlankheit, Kraft und einer schwer beschreibbaren, in der Biegsamkeit des Satzbaus stekkenden Luzidität.

Auch Gertrud Fussenegger selbst, die man nun mit der Eb-nersįlschenbach vergleicht und als „die große alte Dame der österreichischen Literatur“ apostrophiert, ist jung geblieben. Zu ihrem 75. Geburtstag sei endlich, vom ästhetischen Wert ihres Werkes ganz abgesehen, ausgesprochen, was ohne besonderen Anlaß kaum gesagt werden kann:

Wir lieben und verehren Gertrud Fussenegger nicht nur, weil sie im Zeichen eines christlichen Humanismus viele bedeutende Bücher geschrieben und Möglichkeiten zur Rettung und Weiterentwicklung einer auch dem Geiste nach europäischen Kultur dargestellt hat, sondern weil sie ist, wie sie ist: eine große Dame und zugleich ein staunendes Mädchen, eine maßgebende Denkerin und Dichterin und zugleich eine Frau, die sich ihrer Famüie annimmt und ihren Freunden imd Kollegen in guten und besonders in schlechten Zeiten als mitfühlende Helferin beisteht.

Gertrud Fussenegger ist an ihrem 75. Geburtstag gewiß keine Matrone. Sie wirkt alterslos wie ihr Werk. Es ist Dichtung, zeitlos, auf der Höhe der Zeit.

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