6833365-1974_51_06.jpg
Digital In Arbeit

Im Kern: de Gaulle

19451960198020002020

Seit der Gründung der V. Republik war es ein sorgsam gehütetes Privileg der beiden ersten Präsidenten General de Gaulle und George Pompidou, die Außenpolitik höchst persönlich und direkt zu leiten. Die Chefs des Quai d’Orsay erhielten in der Regel sehr beschränkte Befugnisse. Weder das Gesamtkabinett noch die Regierung wurden bei der Ausarbeitung der diplomatischen Linie befragt oder ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt.

19451960198020002020

Seit der Gründung der V. Republik war es ein sorgsam gehütetes Privileg der beiden ersten Präsidenten General de Gaulle und George Pompidou, die Außenpolitik höchst persönlich und direkt zu leiten. Die Chefs des Quai d’Orsay erhielten in der Regel sehr beschränkte Befugnisse. Weder das Gesamtkabinett noch die Regierung wurden bei der Ausarbeitung der diplomatischen Linie befragt oder ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt.

Werbung
Werbung
Werbung

Wir erinnern uns an den ersten schweren Konflikt, der zwischen General de Gaulle und dem früheren Ministerpräsidenten Pinay ausbrach, als letzterer — er war in der ersten Regierung Debrė Finanzminister — den Anspruch erhob, eine Gesamtverantwortung der Minister in den außenpolitischen Fragen zu erzielen. Auch der Entschluß eines Embargos für Waffenlieferungen nach Israel wurde in der Stille des Elysėe- Palastes gefaßt, so daß selbst die nächste Umgebung des Generals überrascht und sogar irritiert war. Diese Handhabung der Außenpolitik wurde von George Pompidou übernommen und sinngemäß weitergeführt.

Als Giscard d’Estaing im Frühling 1974 als dritter Präsident die Macht übernahm, stellte sich die Frage, in welchem Ausmaß er den Stil aufnehmen oder. verändern werde. Gemäß dem von ihm so oft zitierten Wort von der Veränderung nahm man an, er werde zahlreiche gaullistische Tabus über Bord werfen. Aber wie in der Innenpolitik, zeigen auch seine außenpolitischen Initiativen noch nicht, wie das Gesamtkonzept schließlich aussehen soll. Vor allem ist noch unklar, wer eigentlich der wahre Leiter der gegenwärtigen französischen Diplomatie ist. Der nominelle Chef dieses Ressorts, Jean Sauvagnargues, ist ein vorzüglicher Fachmann oder, wenn man will, ein Technokrat der Diplomatie, trotzdem wurden manche Erwartungen, die mit der Ernennung des einstigen Botschafters in Bonn verbunden waren, nicht erfüllt. Die gesamte internationale Welt wußte, daß der letzte Außenminister Pom- pidous, der vielumstrittene Jobert, sich weder in Amerika noch in Europa Freunde gemacht hatte. Auch Sauvagnargues ist es nicht gelungen, echte menschliche Beziehungen zu dem derzeit wichtigsten Mann der internationalen Politik, dem amerikanischen Staatssekretär Kissinger, herzustellen. Der gegenwärtige Ministerpräsident Chirac gewinnt zusehends Geschmack an außenpolitischen Dingen. So ließ er sich am Vorabend der entscheidenden weltpolitischen Wochen in Bagdad feiern und zeigte sich aufgeschlossen für die Gestaltung französisch-arabischer Beziehungen. Natürlich will der starke Mann der Regierung, Innenminister Poniatowski, seine Allround-Talente unter Beweis stellen. Er, der orthodoxe Antikommunist, pilgerte durch das sozialistische Polen und wandelte auf den Spuren seiner Vorfahren. Zu Beginn der sowjetisch-französischen, der europäischen und der amerikanisch-französischen Gespräche tauchte Poniatowski auch in Algerien auf; er bereitete eine offizielle Visite seines Freundes Giscard d’Estaing für 1975 vor. Da mittlerweile vier Spitzenpolitiker die französische Diplomatie beeinflussen wollen, entsteht ein Mangel an Koordination. Es müssen Pannen verzeichnet werden, da manchmal der eine oder andere Sprecher eine Nuance zuweit geht und die außenpolitische Linie, wie sie der Staatspräsident fixiert hat, verändert.

In den ersten 13 Tagen des Dezembers empfing Giscard d’Estaing im Jagdschloß Rambouillet Leonid Breschnjew, versammelte die acht Regierungschefs der EG in Paris, flog zur Antilleninsel Martinique, um dort mit dem US-Präsidenten Ford zu konferieren und hatte am Vorabend dieser diplomatischen Treffen den englischen Premierminister Wilson in den Elysėe-Palast zu einem Dinner geladen. Die Initiative zum englisch-französischen Dialog ging jedoch von Bundeskanzler Schmidt aus, der in ständiger Telephonverbindung mit Giscard d’Estaing und so etwas wie ein Konsulent in außenpolitischen Firagen ist. Selbst auf dem Höhepunkt der gaullistischen Herrlichkeit war es dem legendären General nicht gelungen, in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne in das Spiel der Groß- und Weltmächte einzugreifen, wie dies Giscard d’Estaing fünf Monate nach seiner Wahl schaffte. Es wird sich herausstellen, wieweit der Staatspräsident, der auf monetären und wirtschaftlichen internationalen Konferenzen Erfahrungen sammeln konnte, so verschiedene Gesprächspartner wie Breschnjew, Wilson und Ford beeinflussen kann.

Untersucht man die dominierenden Elemente der französischen Außenpolitik, so kann man an ihnen eine Verschiebung gewisser Akzente ablesen. Aber die wesentlichen Grundsätze der gaullistischen Diplomatie sind wiederzuerkennen. Diese lauten, auf eine etwas vereinfachte Formel gebracht: Mittelmeer, Europa, privilegierte Beziehungen zur Sowjetunion und Abwehr der US-Hege- moniebestrebungen gegenüber der , westlichen Welt.

Die pro-arabische Politik wurde in einem Ausmaß verstärkt, wie es von keinem Experten vorausgesagt worden war. Zwei Schlüsselfiguren der Regierung, Poniatowski und Le- canuet, waren seit Jahren als Freunde Israels bekannt. Sie verfehlten keine Gelegenheit, um an pro-israelischen Kundgebungen teilzunehmen und die stark betonte Hinwendung zu den arabischen Staaten zu kritisieren. Entgegen allen Erwartungen, Frankreich werde im Nahostkonflikt eine etwas neutralere Position einnehmen, wurden die Kontakte mit den arabischen Staa- ‘ ten einschließlich der Palästinensischen Befreiungsfront jedoch verstärkt. Die französische Delegation i bei UNO und UNESCO hat nichts unternommen, um die Demütigung Israels weniger schmerzlich zu gestalten. Da Algerien in der arabischen wie in der Dritten Welt eine i politische und ideologische Führung , beanspruchte, versuchte der Quai ; d’Orsay die Folgen des blutigen ; Kolonialkrieges endgültig zu besei- , tigen. Die Mission Poniatowskis in - Algerien beweist, daß der endgülti- gen Versöhnung zwischen Frankreich ; und dem revolutionären nordafrika- ; nischen Staat nichts mehr im Wege ( steht. Beide Seiten wünschen über : eine gewöhnliche Normalisierung ( hinaus eine enge politische, wirt- , schaftliche und technische Zusam- ] menarbeit. Damit wird die Trikolore am anderen Ufer des Mittelmeeres wieder aufgezogen. Aber diese Ver- j söhnung ist, ob man es will oder , nicht, eine neuerliche Bedrohung , Israels. Es kann nicht verborgen \ bleiben, daß Paris sich in seiner , Nahostpolitik weniger auf die kon- j servativen als auf die sozialistischen ( revolutionären Länder stützt. Ein ( weiterer Pfeiler dieser Offensive ist ( der Irak, welcher der französischen j Industrie die Tore weit öffnet. Aller- dings werden die Kniefälle vor den Herren des Erdöls in Paris nicht j immer mit gutem Gewissen regi- striert. ,

Soweit es Europa betrifft, hat die \ französische Politik eine Revision j erfahren. Paris ist mit der Abschaf- i fnmt HPS Vato-Reohtes im Minister- (

rat und damit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen einverstanden. Die Konferenzen der neun Staats- und Regierungschefs sollen dreimal im Jahr stattfinden und damit eine Art Exekutive, die Grundlage zu einer gemeinsamen europäischen Regierung, bilden. Paris hat sich für die von der Paneuropa- Union Otto Habsburgs angestrebte Direktwahl des europäischen Parlaments ausgesprochen und greift auch eine Lieblingsidee George Pompi- dous auf, welche die Gründung eines europäischen politischen Sekretariats vorsieht.

Die Beziehungen zur Sowjetunion erhielten beachtliche Impulse’ durch die Visite Leonid Breschnjews, der gekommen war, um die Intentionen der neuen Männer Frankreichs zu prüfen. Im Zuge einer gezielten Exportoffensive hofft Frankreich auf den verlockenden Märkten der Sowjetunion mehr als bisher Fuß zu fassen. Obwohl Paris und Moskau sich ständig umarmen, ist die deutsche Bundesrepublik bisher, wirtschaftlich gesehen, für die UdSSR ein viel wichtigerer Partner als Frankreich. Giscard d’Estaing ist außerdem bereit, den Russen in der europäischen Sicherheitspolitik mehr als bisher entgegenzukommen. Eine Gipfelkonferenz der 35 in Helsinki repräsentierten Staaten dürfte auf keinen zu großen Widerstand der Pariser Diplomatie stoßen. Nach wie vor werden die Intentionen Kissin- ;»ers, die USA, Kanada, Japan und die europäischen Staaten zu versammeln, mit großem Mißtrauen betrachtet. Alle Versuche Washingtons, »ine Front der Erdölkonsumenten lufzubauen, stößt auf ein entschiedenes französisches Nein. Giscard l’Estaing versucht als Alternative ;inen Dialog zwischen Produzenten, Konsumenten und den Repräsentan- ;en der erdölarmen Staaten der Drit- :en Welt zu arrangieren. Der neue freund, Algerien, hat diese Idee des Staatspräsidenten durchaus positiv iufgenommen. Alles in allem gese- įen, empfing die französische Außenpolitik Retuschen, blieb jedoch in hrem Kern dem Erbe General de Gaulles treu.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung