Die Wahlen vom November 1989 erneuerten die Nationalversammlung (Lok Sabha) der größten parlamentarischen Demokratie der Welt. Ein Erdbewohner von zehn ist schließlich Inder. Worum geht es wirklich bei den Wahlen im indischen politischen System?
Wahlen in Indien sind nicht ideologisch strukturiert, wie das in Europa der Fall ist, wo man einigermaßen genau weiß, welche Bevölkerungsgruppe links wählt und welches Gebiet rechts. Auch das allgemeine Wahlrecht hat in Indien die gleiche Bedeutung. In der hin-duistischen Weltsicht werden die Einzelpersonen nicht gleichwertig geboren, sie werden in eine Kaste hineingeboren und die Kasten ergänzen einander - aber auf verschiedenen Ebenen, wie alle Dinge in der Natur, damit der Gang der Welt harmonisch ablaufe.
So wie nicht der Einzelmensch, sondern die Großfamilie, Kernzelle der Gesellschaft ist, so ist auch nicht das Individuum Ziel der politischen Werbung, sondern die Kaste. Es gibt drei- bis viertausend Kasten (die Jatis), einteilt in vier Gruppen (die Varnas), die den vier großen Gruppen der traditionellen Gesellschaft entsprechen.
Die Varna der Priester (Brahma-nen) wahren Kultur und Tradition, sie bestimmen das geistige Leben. Die Gruppe der Aristokraten (Ksha-trias) liefern der Gesellschaft die Krieger und heute die politischen Führer. Die Gruppe der Händler und Landbesitzer (Vaishyas) obliegen die laufenden Geschäfte, und die Gruppe der Handwerker und Bauern (Sudras) leistet die Kleinarbeit. Den untersten Schichten -oder noch darunter - sind die Hari-jans, dieUnberührbaren, zuzurechnen.
Das Kastensystem ist heute immer noch Grundlage der indischen Gesellschaft. Die indische Verfassung des Jahres 1950 hat das Kastensystem nicht abgeschafft, nur die Auswirkungen der „Unbe-rührbarkeit" wurden gesetzlich verboten. Die Harijans und die im ursprünglichen Zustand verbliebenen Stämme werden jetzt als „sche-duled castes and tribes" bezeichnet. Die britische Kolonialverwaltung hat das Kastenproblem als Religionsfrage, die Kasten als Sekten oder Vereinigungen betrachtet. Es ist der letztere Blickpunkt, der heute im politischen Alltag zum Tragen kommt.
Kasten werden als so etwas wie bei uns Zünfte betrachtet. Wie gegenüber Zünften verhalten sich jedenfalls die politischen Parteien gegenüber den Kasten. Jede Kaste hat lokal so etwas wie einen politischen Stellenwert den anderen Kasten gegenüber. Grundlage dieses Stellenwerts ist die wirtschaftliche Macht, die wiederum vom Landbesitz der Kastenmitglieder abhängt.
Alle Kasten versuchen, ihr Prestige zu erhöhen. Das unerreichbare Ideal, dem alle Kasten nacheifern, ist die Kaste der Brahmanen. Diese Erscheinung heißt nicht etwa „Brahmanisierung", sondern „ Sanskritisierung", nach den heiligen Texten, die in Sanskrit abgefaßt wurden. Einst war allen Kasten, außer der der Brahmanen, die Lektüre dieser Texte verboten. Heute ist dieses Tabu gebrochen, alle Kasten streben nach Vervollkommnung.
Um gewählt zu werden, muß sich eine politische Partei einen Kandidaten finden, der der lokal herrschenden Kaste angehört oder zumindest der Kaste mit den meisten Wählern. Die andere Methode besteht darin, die herrschende Kaste davon zu überzeugen, daß der Sieg der Partei der Kaste Vorteile bringen wird. So ist zum Beispiel in Kerala die kommunistische Partei dadurch an die Macht gekommen, daß sie eine der herrschenden Kasten des Staates, die Ezha-vas, gegen die andere herrschende Kaste, die Nayars, ausspielte.
Anderswo wieder haben die Kasten ihre eigenen Parteien, wie etwa die Partei der unterdrückten Arbeiter und Bauern (DMKP) - besser bekannt als Lok Dal. Ihr Gründer, der verstorbene Charan Singh, wurde 1979 über sie Premierminister des Staates Janata in Uttar Pradesh.
Eine gewisse Verwestlichung, die man bei Geschäftsleuten und bei der politischen, ländlichen und militärischen Elite feststellen kann, bleibt an der Oberfläche. Nur zwei bis drei Prozent der Inder sprechen englisch. Die Verwestlichung hält an den Türen zum Privatleben an. Sosehr ein Geschäftsmann ein „Playboy" sein mag, wird er doch seiner Familie auftragen, eine Frau aus derselben oder einer nahestehenden Kaste für ihn auszusuchen.
Sicher zwingt das nahe Zusammenleben zwischen Angehörigen verschiedener Kasten in den Großstädten zu einem Verflachen der Tabus. Das bedeutet aber noch lange nicht das Ende des Kastenwesens mit dem Anbruch des neuen Jahrtausends. Auch in den Städten ist das System dynamischer denn je, trotz der gewachsenen Freizügigkeit zwischen den Kasten. Das ist nicht nur eine Frage der Anpassungsfähigkeit - Institutionen und Praxis der parlamentarischen Demokratie stärken das Kastenwesen.
Einige Punkte, die das zeigen: • Der technologische Fortschritt ist kein Hindernis für das Kastensystem. Wenn man weniger Töpfer und Schuster, aber mehr Installateure und Elektriker braucht, dann entstehen ganz einfach neue Kasten von Elektrikern und Installateuren, die ihre Mitglieder aus den untergehenden Kasten rekrutieren.
• Bei den Wahlkämpfen sind die Kasten Hauptziele der Agitation der politischen Parteien, was zu ihrer Stärkung beiträgt. Umgekehrt entdecken die Kasten, daß die Politik ihnen dienlich sein kann.
• Die Absicht der Autoren der indischen Verfassung, die „Apartheid" abzuschaffen, von welcher Unberührbare und Eingeborene betroffen sind, weiters die Absicht, ihnen Quoten an den zu vergebenden Stellen in der öffentlichen Verwaltung zu reservieren, bringt es mit sich, daß jeder Inder seine Kaste angeben muß! Auch das stärkt die Existenz der Kasten.
Weiters wurde - in der gleichen Absicht-nach der Unabhängigkeit die neue Klasse der „Benachteiligten" (Backwards) geschaffen. Absurdes Ergebnis: Eine riesige Anzahl von Angehörigen niedriger Klassen versucht, in die Klasse der „Benachteiligten" aufgenommen zu werden, um so leichter eine Anstellung zu bekommen.